Moshe Shner: In the Beginning There was the Holocaust. A Spiritual Journey Back into the Abysses of Jewish History , Jerusalem: The Hebrew University Magnes Press 2013, 493 S., ISBN 978-965-493-689-7, USD 39,33
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Wie hat die Shoah das jüdische Denken geprägt? Wie wurde der Holocaust in die jüdische Geschichte integriert und welche Bedeutung hat jüdische Existenz in einer Post-Holocaust-Welt? Diese Fragen bewegten seit 1945 zahlreiche Rabbiner und säkulare Intellektuelle. Der israelische Shoah-Forscher aus dem Kolleg Oranim wagt sich an ein Kompendium, das über die zentralen Strömungen des jüdischen Denkens mit Blick auf den Holocaust Auskunft gibt. Das Resultat ist eine - zuweilen aufwühlende - intellektuelle Wirkungsgeschichte, die Zugang zu spannenden Debatten eröffnet.
"Am Anfang war die Shoah" erschließt "ein tiefgreifendes jüdisches Verlust-Bewusstsein, Sehnsucht nach Sicherheit und große Besorgnis über die Zukunft" (17). In Anlehnung an das Erste Buch Moses "Bereschit" (hebr. "Anfang") wird das Jahr 1945 als die "Stunde Null" der jüdischen Zeitgeschichte verstanden. Dass eine weitere Zäsur lediglich drei Jahre später gesetzt werden muss, verstärkt die Bedeutung dieser historischen Phase: 1945 wird zwangsläufig von 1948 aus thematisiert. Das jüdische Denken nach der Shoah vollzieht sich also im historischen Kontext des jüdischen Nationalstaats, gewissermaßen aus der Perspektive der doch gelungenen "Wiedergeburt" (Tkuma).
Nachdem im ersten Kapitel "Historie und Erinnerung" Prozesse von Mythen- und Narrativ-Bildung behandelt werden - hier wird auch das Verhältnis von Geschichte und (Kollektiv)-Gedächtnis angerissen -, geht das zweite ("Die Shoah als Fortsetzung der jüdischen Heilsgeschichte") auf die Katastrophe aus orthodoxer Perspektive ein. Diese wird als integraler Bestandteil einer sakrosankten, sprich Rabbinischen Geschichte interpretiert. Laut orthodoxer Denker lasse sich Auschwitz ohne große Mühe in das Paradigma der jüdischen "Heilsgeschichte" einbetten: Die Shoah stelle ein wiederholbares Phänomen der unabwendbaren Verfolgungsgeschichte dar. Das traditionell jüdische Erklärungsmuster der "Rechtfertigbarkeit des Gerichts" (Ziduk Hadin) will alles, was in der Welt geschieht, als gerechtfertigt verstanden wissen. Es ermöglicht daher, auch das beispiellose Grauen in die als heilig begriffene Geschichte einzubetten, um damit sogar dem Grauen selbst eine Bedeutung zu verleihen: Die Shoah sei die Strafe Gottes für die Sünden des jüdischen Volks: Modernisierung, Säkularisierung, Assimilation und schließlich jüdischer Nationalismus, sprich Zionismus.
Während die "Rechtfertigbarkeit des Gerichts" als theologisches Argument der Orthodoxie Gottes scheinbar unerklärliches Handeln in dieser Welt (sein Volk vernichten zu lassen) doch zu erklären sucht, schließt die Neo-Orthodoxie jedes Zutun Gottes aus. "Gott ist nicht verantwortlich: Die Shoah im neo-orthodoxen Denken", ist das dritte Kapitel überschrieben. Hier gilt das theologische Erklärungs-Paradigma der "Gesichtsverschleierung" bzw. "vorübergehenden Abwesenheit" Gottes. Demnach ereignete sich die Katastrophe in einer historischen Phase der Abstinenz Gottes; er habe seine Gnade nicht mehr über sein Volk walten lassen, für das menschliche Böse sei er daher nicht direkt zuständig. Die sechsjährige dunkle Zeit bleibe unerklärbar. Danach - und dies werde auch durch 1948 bewiesen - sei Gott in die Geschichte des jüdischen Volks zurückgekehrt.
Liberales und postmoderndes Denken behandelt das vierte ("Jüdischer Liberalismus und Shoah-Bewusstsein") und fünfte Kapitel ("Kritischer Humanismus und kritische Religiosität: Postmoderne Deutung der Shoah"). So tief diese Denkströmungen in der jüdischen Tradition verwurzelt waren, so sehr veranlasste die Katastrophe führende Köpfe des liberalen Judentums wie Rabbiner Leo Baeck und Rabbiner Ignaz Maibaum, das Konzept von "Gottes-Aufsicht" neu zu denken und schließlich ganz aufzugeben. Die Geschichte stellte demnach nichts Göttliches dar, sie sei also keine Heilgeschichte mehr, sondern vielmehr ein menschliches Drama. Das Leid wird daher nicht so sehr als Gottes Strafe gedeutet, sondern vielmehr als direkte Herausforderung an die Menschen und ihren Glauben.
Leo Baeck formulierte eine Leid-Lehre, wonach nicht so sehr der Grund für das Leiden entscheidend sei, sondern vielmehr der Umgang des Leidenden mit seinem Schicksal. Ignaz Maibaum ging weiter und verlieh dem Leid der europäischen Juden sogar eine positive Bedeutung: Als Kreuzigungsopfer der europäischen Geschichte hätten die Juden in Auschwitz die Menschheit einen Schritt voran bzw. aus dem dunklen Mittelalter herausgebracht (152). Wie dies gemeint ist, lässt Shner ungeklärt, subsumiert jedoch diese Denkweisen unter dem Begriff "Jüdischer Liberalismus".
Auch der "Kritische Humanismus" entstammt Rabbinischem Denken. Mit Hilfe der orthodoxen Lehre der "Rechtfertigbarkeit des Gerichts" entwickelten die Rabbiner Eugine Borowitz und Irving Greenberg ihre Kritik an der Menschheit: tiefgreifende Skepsis an der Möglichkeit menschlicher Selbsterlösung in der Geschichte stehe im Zentrum ihres Denkens; paradoxerweise schließen sie, nur ein erneuerter Bund mit einem moralischen Gott ließe dem Menschen seine Lebenswelt als menschlichen Raum wiederaufbauen.
Jüdisches Denken in einer Postholocaust-Welt ohne Gott ist in der Tat eine bemerkenswerte Denkströmung; "Welt ohne Gott" heißt das sechste Kapitel, in dem die narrative Identitätskrise aus säkularer Sicht behandelt wird. Jüdische Denker wie Itzhak Katznelson, Elie Wiesel und Richard Rubenstein boten somit ein "revisionistisches", sprich säkulares Narrativ, das auf den Glauben an einen gerechten und gütigen Gott kategorisch verzichtet. Der Holocaust habe demnach einen tiefgreifenden, in Wahrheit irreparablen Bruch der jüdischen Identität nach sich gezogen: Für Wiesel zerstörte die Shoah die Bedeutung der abendländischen Zivilisation und verkörperte die "absolute Leere" der Menschheit; für Katznelson ist der Himmel im jüdisch-religiösen Sinne eine hohle Vorstellung; für Rubinstein existiert der jüdisch-christliche Mythos vom gütigen und barmherzigen Gott nicht mehr.
Auch das siebte Kapitel "Der Jude als Opfer: Opferbewusstsein nach der Shoah" thematisiert säkulare Deutungen - gewissermaßen als Gegengewicht für die alt-jüdische religiöse Denktradition der "Gottes-Heiligung" (Kidusch Hashem). Drei prominente jüdische Denker - selbst Überlebende - kommen zu Wort: George Steiner, Jean Améry und Primo Levi. Eine tiefgehende unentrinnbare Einsamkeit erschließt Shner als zentrales Motiv ihrer Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal: Doch während Steiner dieses als eigentliche Sendung des Juden in der Welt erachtet - der "wandernde", geradezu wurzellose Jude solle diese Aufgabe mit Stolz und Verantwortung tragen -, weigert sich Améry, im Zustand der Juden als "allein unter den Völkern" etwas Heroisches oder Sinnhaftes zu sehen; für Primo Levi hielten schließlich Scham und Kränkung den Gefangenen / Überlebenden in seinem Opfer-Status gefangen, was sein Einsamkeitsgefühl noch stärker festigte.
Vom unabwendbaren Opfer-Bewusstsein zum Wiederaufbau - damit befasst sich das achte Kapitel mit dem Titel: "Wiedererrichtung der Welt" (Tikun Olam) nach der Shoah, wobei die Auseinandersetzung mit dem Denken des deutschen Rabbiners und Philosophen Emil Fackenheim im Mittelpunkt steht. Sehr ausführlich geht Shner auf das von Fackenheim thematisierte, letztlich ungeklärt bleibende Paradox ein, in dem sich Juden seit 1945 befinden: Einerseits bildet die Erinnerung an Auschwitz ein konstitutives Identitätsmerkmal, mithin eine vernichtende Verfolgungsgeschichte, andererseits jedoch propagiert Fackenheim sein berühmtes Gebot 614: die Juden davon zu überzeugen, zusätzlich zu den 613 Thora-Vorschriften gemäß der Halacha noch ein weiteres aufzunehmen: die unbedingte Pflicht, ihre Existenz zu sichern - Hitler dürfe nach seinem Tod keineswegs triumphieren.
Shner selbst scheint von diesem Paradox - auch als Dilemma bezeichnet - überfordert. Die mehr als 80 Seiten Auseinandersetzung mit Fackenheims Theologie enden in Spekulationen und Unklarheiten, in wieweit das jüdische Leben nach 1945 überhaupt Sinn ergibt. Doch deutlich bleibt: Der Zionismus sei die ultimative Antwort auf 1945; Israel begreift Fackenheim als ein "Fest der jüdischen Existenz" (334). Für ihn (ebenso wie für den linkszionistischen Shner) wird die Gründung des jüdischen Staats ohne Zweifel als der Beginn der Geschichte erachtet, in der die "Wiederaufrichtung der Welt" möglich sei. Dass das zionistische Israel Fackenheims 614stes Gebot geradezu zur Staatsräson erhob, dürfte das Dilemma gewissermaßen aufgelöst haben.
Das Kapitel "Die israelische Gesellschaft und die Shoah", in dem es um Formen der israelischen Erinnerungskultur geht, schließt den Band ab. Texte von israelischen Soldaten aus dem Sechstagekrieg werden ebenso angerissen wie frühe Zeugnisse prominenter Überlebenden wie Abba Kovner und Zwi Shner. Auch das Phänomen der Reisen jugendlicher Israelis nach Auschwitz seit Ende der 1980er Jahre findet hier Erwähnung, ebenso die Geschichte von Erinnerungsorten wie Yad Vashem oder das Museum Lohame Hagetaot (Ghetto-Kämpfer) in Nordisrael. Doch der Zusammenhalt all dieser Momente der israelischen Erinnerung bleibt leider in der Schwebe, der Mehrwert ist nicht ersichtlich.
Die beschriebenen Deutungen lassen sich unabhängig voneinander lesen und behandeln jeweils einen eigenständigen Topos. Es stellt sich aber die Frage, was all diese Denkrichtungen zusammenhält. Oder: Was ist jüdisch am hier dargebotenen jüdischen Denken? Inwieweit sind zum Beispiel die Gedankengänge Primo Levis oder Jean Amérys jüdisch? Was macht die Gedenkkultur Israels so jüdisch? Der Holocaust gilt hier ausschließlich als jüdische Shoah. Die Perspektive des israelischen Autors, der auch zur zweiten Generation gehört, bleibt in der Tat jüdisch. So bietet der Band einen breitgefächerten, spannenden Einblick in ein wahrlich vielschichtiges Nachdenken von Juden über jüdische Identität in einer Welt nach dem Holocaust. Dies ist eine Historie, die den Zweifel über den dramatischen Bruch und den erhofften Neuanfang angesichts des offenbar kaum Überwundenen buchstäblich spüren lässt. Im Spannungsfeld vom Shoah und Tkuma bewegt sich Bereschit. Oder wie es Shner zu Beginn selbst formuliert: Der Holocaust stellt eine "strategische Herausforderung für das Opfer-Volk" dar (8).
Tamar Amar-Dahl