Klaus Garber: Martin Opitz, Paul Fleming, Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 648 S., ISBN 978-3-412-20648-2, EUR 89,90
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Klaus Garber hat seit den 1970er Jahren im Rahmen der von ihm in der Mitte der 1980er Jahre begründeten Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück systematisch nach historischen deutschen Altbeständen in Bibliotheken Polens, der baltischen Staaten und Russlands geforscht und viel Verlorengeglaubtes in diesen "Schatzhäusern" gefunden [1], darunter insbesondere verstreute Bestände aus Königsberger Bibliotheken. Ein Ergebnis seiner hartnäckigen Suche ist das seit 2001 erscheinende, bislang in 31 Bänden vorliegende Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven, das eine bis dahin unterbewertete, nicht nur personengeschichtlich relevante Literaturgattung erstmals überhaupt erschließt und in ergänzenden Mikroficheeditionen zugänglich macht. Der vorliegende Band vereinigt drei Studien von jeweils monografischem Umfang zu den im Titel genannten Dichtern des 17. Jahrhundert, Martin Opitz, Paul Fleming und Simon Dach, von denen Garber bei seinen systematischen, durchaus detektivisch zu nennenden Bibliotheksrecherchen Werke wiederentdeckt oder neu aufgefunden hat.
Von der barocken Überschrift "Daphnis. Ein unbekanntes Epithalamium und eine wiederaufgefundene Ekloge von Martin Opitz in einem Sammelband des schlesischen Gymnasium Schönaichianum zu Beuthen in der litauischen Universitätsbibliothek Vilnius" des Beitrags über Martin Opitz (1597-1639) sollte man sich nicht abschrecken lassen. Garber beginnt mit der Geschichte der Entdeckung der Opitz-Drucke in Wilna. Er skizziert die Bibliothekgeschichte vom "gegenreformatorischen gelehrten Vilnius" bis zum "Katastrophen-Jahrhundert" (13), wobei - an vielen Stellen dieses Bandes - die Literaturangaben (auch in osteuropäischen Sprachen) den Text nach ihrer Menge um ein Vielfaches übertreffen. Er rekonstruiert den Weg der entdeckten Zimelie über die Bibliothek des 1832 aufgelösten Dominikanerklosters in Grodno nach Wilna. In 14 Text- und gut 300 kleingedruckten, einen erschöpfenden Literaturbericht bietenden Anmerkungszeilen informiert er über das Gymnasium im niederschlesischen Beuthen an der Oder und die anderen Beiträger dieses Sammelbands von sieben lateinischen Gelegenheitsdrucken mit dem Erstdruck des Hochzeitsgedichts Opitz', das George Schulz-Behrend in seine kritische Opitz-Gesamtausgabe nur nach einer späteren Fassung aufnehmen konnte. Bevor Garber auf die Tobius Scultetus gewidmete Ekloge näher eingeht, ordnet er sie gattungs- und literaturgeschichtlich in den europäischen Kontext ein. Garber hat den Sammelband mit dem Erstdruck aus der Berliner Staatsbibliothek in Wilna wieder aufgefunden (zur Auslagerungsgeschichte Anmerkung 78, 64f.), ediert ihn erstmals, ergänzt um die deutsche Übersetzung, und umreißt sein "böhmisch-schlesisches Kräftefeld" (71). Bevor er sich dem Inhalt zuwendet, geht Garber ausführlicher auf Scultetus und die unzureichend untersuchte schlesische barocke Biografistik ein. Das im Anhang abgedruckte "Verzeichnis bio-bibliographischer handschriftlicher und gedruckter Hilfsmittel zur schlesischen Personenkunde der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Späthumanismus" (97-157) erschließt - vorzüglich kommen¬tiert und annotiert - einen Quellenfundus, den Garber für das Osnabrücker Forschungsinstitut verfilmen lassen konnte.
Der zweite, nach der Erstveröffentlichung 1988 [2] jetzt wesentlich erweiterte Beitrag "Paul Fleming in Riga" umfasst die kritische Edition dessen lateinischer und deutscher Gedichte aus der in Riga erhaltenen Sammlung Gadebusch. Fleming (1609-1640) besuchte Riga als Hofmeister des Herzogs von Holstein-Gottorp während dessen "Moskowitischer Reise" 1633 und 1635. Garber rekonstruiert den historischen Kontext, erschließt Fleming-Drucke in Russland und im Baltikum und porträtiert den Sammler und Gelehrten Friedrich Konrad Gadebusch (1719-1788) und dessen Nachlass.
Schon im Titel der dritten Studie "Die zerstobene Kürbishütte" charakterisiert Garber die komplizierte Werküberlieferung des in Memel geborenen Königsberger Autors Simon Dach (1606-1659) und liefert zunächst eine detaillierte Editions- und Rezeptionsgeschichte einschließlich des editorischen Beitrags der Musikwissenschaft bis zu der von Walther Ziesemer verantworteten Ausgabe (1936-1938) und deren problematischer methodischer Fundierung. Im zweiten Teil berichtet Garber von der Wiederentdeckung der von Erich Trunz 1973 noch für vernichtet erklärten "großen sammlerischen Einheiten" (423, 625) aus Königsberger Bibliotheken in Russland, den baltischen Staaten und in Polen und beschreibt die entdeckten Sammelbände. Die größte Sammlung von Dach-Drucken hat allerdings Johann Kaspar Arletius (1707-1784) in Breslau zusammengetragen, sie ist in der dortigen Universitätsbibliothek erhalten. Ausführlich geht Garber der Frage nach, auf welche Weise Arletius die Drucke erworben hat, beschreibt diese kurz und fordert eine detaillierte bibliografische und bibliologische Erfassung: "Die desolate editorische Situation potenziert sich im Blick auf die bibliographische Erschließung" (599). Weiter weist er auf Dach-Bestände in Deutschland und im Ausland hin und auf ein weites Feld von Forschungsmöglichkeiten. Es fehlten allerdings die dazu notwendigen "Stätten der Forschung", und Garber hat wegen der "sich kontinuierlich perpetuierenden Auszehrung" der Universitäten (630) wenig Hoffnung auf ihre Einrichtung, sieht offensichtlich "die Überlieferung gerade auch unserer älteren Literatur im Fach (XVII) gefährdet.
Garbers Sammlung enthält mehr als nur vorzügliche Studien zu den drei im Titel genannten wesentlichen Dichtern des frühen 17. Jahrhunderts und ihrer Überlieferungsgeschichte. Er leistet einen grundlegenden Beitrag zur Erforschung des Schicksals deutscher historischer Buchbestände während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei der Lektüre spürt man, dass er das "Glück, das die Göttin des Zufalls für den passionierten Sammler und Spurensuchenden stets wieder bereithält" (5), erfahren hat. Im Opitz-Beitrag entwirft der Verfasser, reich annotiert mit Literaturhinweisen zum historischen Befund und zur bibliothekarischen Überlieferung, ein breites Spektrum des schlesischen Späthumanismus, zu Fleming eröffnet er den Blick auf die frühneuzeitliche baltische Sammlungstradition, bei Dach berücksichtigt er ein weites Umfeld und bietet immer wieder Hinweise auf die besuchten Bibliotheken. Mit philologischer, bibliografischer und bibliotheksgeschichtlicher Akribie fasst der "Biblio-Archäologe" (Wolfgang Adam in der Würdigung zur Verleihung der Ehrendoktorwürde in Hamburg 2003) in Text und Anmerkungen ein gewaltiges Wissen zusammen, von dem die auf das 17. Jahrhundert bezogene germanistische, historische und bibliothekswissenschaftliche Frühneuzeitforschung noch lange profitieren wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Klaus Garber: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents, München 2006; ders.: Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum, Köln 2007.
[2] Norbert Honsza / Hans-Gert Roloff (Hgg.): Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag, Amsterdam 1988, 255-302.
Wolfgang Kessler