Thomas M. Bohn / Rayk Einax / Julian Mühlbauer (Hgg.): Bunte Flecken in Weißrussland. Erinnerungsorte zwischen polnisch-litauischer Union und russisch-sowjetischem Imperium (= Historische Belarus-Studien; Bd. 1), Wiesbaden: Harrassowitz 2013, 231 S., ISBN 978-3-447-10067-0, EUR 38,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Rayk Einax: Entstalinisierung auf Weißrussisch. Krisenbewältigung, sozioökonomische Dynamik und öffentliche Mobilisierung in der Belorussischen Sowjetrepublik 1953-1965, Wiesbaden: Harrassowitz 2014
Thomas M. Bohn: Der Vampir. Ein europäischer Mythos, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Thomas M. Bohn / Dietmar Neutatz (Hgg.): Studienhandbuch östliches Europa. Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002
Aus westeuropäischer Perspektive wird Weißrussland oft als ein weißer Fleck in Europa wahrgenommen, der Blick bleibt meist auf die aktuelle politische Situation in der angeblich "letzten Diktatur Europas" beschränkt. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes haben sich zum Ziel gesetzt, diesem weißen Fleck Farbe zu geben. Die Publikation geht auf das zweite Treffen [1] der Belarus-Arbeitsgruppe an der Justus-Liebig-Universität Gießen 2011 zurück. Wissenschaftler, darunter gerade auch jüngere, aus mehreren Nationen vermitteln in 18 Beiträgen Einblicke in unterschiedliche Bereiche der weißrussischen Geschichte. Die historische Perspektive veranschaulicht die Bedeutung der Region als Kontaktzone zwischen Ost und West sowie die mannigfaltigen Einflüsse auf das Land, das dem Großfürstentum Litauen und der polnischen Adelsrepublik, dem Russischen Reich und der Sowjetunion angehörte, bis es 1990 seine Unabhängigkeit erklärte. Die wechselvolle Geschichte spiegelt sich auch in den Irritationen in Bezug auf die Bezeichnungen des Landes wider - Ruthenien, Weißrussland, Belorussland, Republik Belarus (10).
Die Vielgesichtigkeit der multikulturellen Region und die "bunten Flecken" in der weißrussischen Geschichte werden in mehreren Beiträgen des Bandes eindrucksvoll dargestellt: Henadz' Sahanovič schildert die kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt Rutheniens im Großfürstentum Litauen und zeigt Beispiele friedlichen Zusammenlebens und gelebter Toleranz im Alltag. Zachar Šybeka zeichnet die höchstinteressante Geschichte der Mjastetschki (mjastečki) - kleinerer Agrarstädte, die in effektiver Arbeitsteilung landwirtschaftliche und unternehmerische Bedürfnisse bedienten und von Unierten, Katholiken, Orthodoxen, Protestanten, Juden und Muslimen bewohnt und geprägt waren. Die dortigen Landgüter und Schlösser beherbergten bedeutende Kulturschätze wie Gemälde, Bibliotheken, Archive und Museumssammlungen, die durch zahlreiche Kriege zerstört oder außer Landes gebracht und bis heute nicht zurückerstattet wurden. Die Entwicklung des Tourismus trägt positiv zur Wiederentdeckung des kulturellen Erbes bei, auch wenn einige der noch bestehenden Architekturdenkmäler im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen von der Zerstörung bedroht sind. Im Urwald der Beloweschskaja Puschtscha (Bialowiezer Heide), wo man sich um die Wiederaufzucht von Wisenten bemüht, wird mit dem Tourismus hingegen die Schaffung eines weißrussischen Erinnerungsortes vorangetrieben, der nicht mit der untergegangenen jahrhundertealten historischen Landschaft, sondern vielmehr mit dem Gedenken an die Partisanen verbunden ist, wie Thomas M. Bohn zeigt. Volha Bartash zeichnet die jahrhundertealte Koexistenz der Roma und der weißrussischen Bauern nach, die sich im Handel und in familiären Verbindungen zeigte und dennoch nicht ohne gegenseitige Vorurteile auskam. Die in der Sowjetunion verordnete Sesshaftigkeit der Roma erforderte eine Anpassung, ohne hierfür zugleich konkrete Hilfestellung zu bieten. Die postsowjetische Zeit machte die Erfahrungen der Koexistenz rasch zunichte und führte zur Marginalisierung der Roma und zu einem Anstieg des Antiziganismus.
Die Vielsprachigkeit und multikulturelle Offenheit erlebten in den 1920er Jahren eine kurze Blütezeit, wie aus den Beiträgen von Johannes Wiggering zur Gründungsphase der Belarussischen Staatsuniversität (BGU) und von Dimitri Romanowski zur dänischen Landwirtschaft als Vorbild für Weißrussland hervorgeht. Die sowjetische Politik der "Belarusifizierung" förderte die Entfaltung der belarussischen Sprache, Kultur, Literatur und Wissenschaft. Es entwickelte sich auch eine belarussische Wirtschaftswissenschaft, deren Vertreter bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts die ökonomischen Konzepte in Skandinavien beobachteten und ein an die lokalen Gegebenheiten angepasstes Modell entwickelten. Ab 1928/29 wurde die Belarusifizierung jedoch revidiert, stalinistische Repressionen führten zu einem gesellschaftlichen Umbruch, in dessen Folge die belarussische Wissenschaft abgewertet sowie das akademische Personal der BGU entlassen und verhaftet wurde; es herrschte eine Kultur des Misstrauens und der Denunziation. Die Anhänger skandinavischer Agrarmodelle wurden der Erneuerung des Kapitalismus bezichtigt und zu Volksfeinden erklärt. Die Anpassung an den homo sovieticus begann.
Mit der deutschen Besatzung begann das dunkelste Kapitel der weißrussischen Geschichte. Christoph Rass und Aliaksandr Dalhouski schildern in ihrem Beitrag ein Massenverbrechen der Wehrmacht aus der Endphase der deutschen Herrschaft, bei dem im März 1944 etwa 50 000 Zivilisten, darunter vor allem Frauen, Kleinkinder, ältere und erkrankte Menschen, als "unnütze Esser" in die Lager bei Osaritschi deportiert und zurückgelassen wurden. Die Deportation der "arbeitsunfähigen" Menschen sollte den deutschen Herrschaftsbereich entlasten und die anrückende Rote Armee mit der Rettung der Überlebenden belasten. Die überlebenden Opfer der Deportation wurden nach dem Krieg dem Generalverdacht der Kollaboration ausgesetzt und haben nur schwer und spät ihren Platz in der Erinnerungskultur gefunden, die die antifaschistische Partisanenbewegung in den Mittelpunkt stellte. Dem Partisanenwiderstand und seinem Stellenwert als Identifikationsangebot in der sowjetischen Epoche und in der heutigen Republik widmet sich anschließend Ekaterina Keding.
Eine Reihe von Beiträgen vermittelt Einsichten in verschiedene Bereiche der sowjet-weißrussischen Geschichte: Julian Mühlbauer schildert die steile Karriere des Parteifunktionärs Petr M. Mascherau, der bis heute einen festen Platz in der belarussischen Erinnerungskultur einnimmt. Elizaveta Slepovitch führt am Beispiel eines Einzelschicksals das Alltagsleben der Juden in der Sowjetunion vom Spätstalinismus bis zur Perestroika vor. Mitunter Kurioses erfährt man aus den Beiträgen von Rayk Einax über die belarussischen Geldscheine nach dem Wegfall des sowjetischen Rubels und von Michele Klöckner über den Austausch von Freundschaftszügen zwischen der DDR und der BSSR, die nicht nur den institutionalisierten freundschaftlichen Kontakten, sondern nebenbei auch dem Handel mit Konsumgütern dienten. Alexander Friedman schildert Höhen und Tiefen der belarussischen Handballmannschaft SKA Minsk, deren Erfolge zur Aufmunterung der Bevölkerung in der schweren Zeit nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl beigetragen haben.
Stefan Jarolimek dokumentiert einige Instrumente der staatlichen Zensur, die sich seit dem Amtseintritt von Aljaksandr LukaŠenka gegen einen unabhängigen Journalismus richtet und in die Journalistenausbildung eingreift. Konrad Hierasimowicz zeigt, dass auch belarussische Künstler staatlichem Druck ausgesetzt sind, wenn sie die politisch-gesellschaftliche Situation des Landes in ihren Werken verarbeiten und wenn ihre Werke von der offiziellen, (post-)sowjetischen Kultur abweichen. Manche müssen im Untergrund oder im Ausland wirken, um aktiv, kontrovers und unbequem bleiben zu können. Hierasimowicz stellt in seinem Beitrag einige Kurzporträts der, wie Hierasimowicz es selbst formuliert, "unARTigen" (224) Künstlerinnen und Künstler vor, die als bunte Vögel Hoffnung auf mehr Vielfalt in der heutigen belarussischen Gesellschaft machen.
Die thematisch breite und gut lesbare Textsammlung der Belarus-Arbeitsgruppe erweitert die Forschungslandschaft um neue, zum Teil bislang unbekannte Aspekte der weißrussischen Geschichte und Kultur. Die Beiträge eröffnen vielfältige Perspektiven auf eine multikulturelle Region an der Grenze zwischen Ost und West, die im 20. Jahrhundert zum Schauplatz zweier Weltkriege, gewaltiger sozialer Umbrüche sowie demografischer und atomarer Katastrophen wurde. In ihrer Gesamtheit tragen die Studien zum Verständnis von Problemen und Herausforderungen der heutigen weißrussischen Gesellschaft bei.
Anmerkung:
[1] Die Ergebnisse des ersten Treffens 2009 sind publiziert in: Thomas M. Bohn / Victor Shadurski (Hgg.): Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld 2011.
Svetlana Burmistr