Philipp Osten: Das Tor zur Seele. Schlaf, Somnambulismus und Hellsehen im frühen 19. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 383 S., ISBN 978-3-506-77935-9, EUR 44,90
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Um 1800 strahlte das Licht der Aufklärung für einige Jahre in Bereiche, die danach rasch wieder im Okkulten verschwanden: Theoretische Reflexionen sowie praktische Studien zu schon um 1840 eindeutig forschungsunwürdigen, ja lächerlich scheinenden Themen, waren jetzt möglich. Dazu gehören Somnambulismus und Hellseherei, mit denen sich Philipp Osten eingehend befasst hat. Diese Phänomene sind uns heute ebenso fremd wie der damalige wissenschaftliche Zugriff darauf. Mediziner, Philosophen und Theologen ließen sich gleichermaßen von den Berichten etwa über magnetisierte Frauen faszinieren, die in einer Zwischenwelt zwischen Schlaf und Wachen die Therapie ihrer Erkrankung selbst benennen konnten, und machten sich an ihre Erforschung. Der "Seelenkunde" schien sich hier die Möglichkeit zu bieten, ihrem Gegenstand auf die Spur zu kommen.
Der Autor wählt einen Ansatz, der über einen klassisch wissenschaftshistorischen Zugriff hinausgeht, indem er historische Fallstudien einbezieht, um an einzelnen Somnambulen zeitgenössische Positionen auch in Gesellschaft und Politik nachzuzeichnen und zu analysieren. Schon die Einleitung macht neugierig - auch durch die Spannung, die sich zwischen dem hochreflektierten Kontextualisieren der zeitgenössischen wissenschaftlichen Quellen und den angekündigten Fallstudien aufbaut.
Das Buch besteht aus drei Teilen in fünf Kapiteln zuzüglich einer luziden Einführung und einer Schlussbetrachtung. Der erste Teil befasst sich mit dem wissenschaftlichen, religiösen und politisch-institutionellen Zugriff auf den Somnambulismus in der aufregenden Umbruchzeit zwischen 1800 und 1840. Besonders aufschlussreich sind hier die zeitgenössischen Debatten um seine Wissenschaftlichkeit. Osten markiert gerade auch Grenzen dessen, was in Wissenschaft und Politik diskursfähig war, bis sich um 1840 das "Tor zur Seele" schloss. Der schlafende Mensch wurde nun zwar weiter erforscht, aber in erster Linie in Hinblick auf physiologische Vorgänge. Statt nach dem philosophischen Absoluten suchte man lieber (erst einmal) beispielsweise nach Schlafstoffen oder Ermüdungsmustern. Körper und Seele wurden nun - jedenfalls im wissenschaftlichen Mainstream - unterschiedliche "Baustellen".
Warum die Wahl unter den vielen damals bekannt gewordenen und teils mit großem Interesse rezipierten Somnambulengeschichten genau auf die beiden analysierten württembergischen Fallgeschichten fiel, erläutert Osten nicht im Detail. Sie erweisen sich aber als durchaus erhellend, gerade auch, wie der Autor betont, weil sie der Geheimhaltung unterlagen und gewisse politische Brisanz aufwiesen (10). Die Geschichten der siebzehnjährigen katholischen Tochter eines oberschwäbischen Leibeigenen, die 1816 in Stuttgart untersucht wurde, und ein anderer Fall aus dem Pietistenmilieu der schwäbischen Alb ein paar Jahre später rekonstruiert Osten aus Notizen, amtlichen Berichten und Befehlen, Gutachten und Briefen. Anders als die historischen Gutachter (Ärzte und Theologen) und die Behörden der Fälle hinterfragt Osten soweit möglich die Lebensumstände der Frauen, zudem interessieren ihn die Motivationen der Wissenschaftler und Behörden. Dabei ging es unter anderem um die Deutungshoheit: Waren die betreffenden Frauen beispielsweise Besessene? Krankheiten der Seele fielen damals noch klar in das Ressort der Geistlichen. Oder war ihr sonderbarer Zustand ein medizinisches oder wenigstens medizinisch nutzbares Phänomen? Osten zeigt, dass sich der genauere Blick auf den Erfahrungshorizont der betroffenen Frauen lohnt, wenn es um (wissenschaftliche) Zugriffe durch Amtspersonen geht. Er trägt viel zum Verständnis der damaligen Zeit bei. So hatten exorzistische Praktiken und magnetisierende Behandlung durchaus Gemeinsamkeiten.
Der dritte Teil stellt eine kleine Auswahl von einflussreichen Schlafdiätetikschriften vor, in denen es in erster Linie um den Körper und seine Beherrschung, weniger um die Seelengesundheit des Menschen ging. Nicht der Blick nach innen, sondern das Haushalten mit der Lebenskraft steht hier im Vordergrund. Osten beschreibt die Schlafdiätetik als Gegenbewegung: Für die Diätetiker war der Schlaf ein unheimliches, unfassbares Phänomen, das es mit konkreten Regeln zu kontrollieren galt. Das erklärt auch, warum dieser Teil sich nicht ganz glatt in das Buch einfügt. Osten stellt dem Kapitel die Frage voran, welche Auswirkungen die Debatten über Magnetismus und damit Somnambulismus in Politik und Wissenschaft auf den Alltag der breiten Bevölkerung hatten (191). Die Ratgeber von Christoph Wilhelm Hufeland und Kollegen geben darüber weniger Auskunft, als man demnach erwarten könnte.
Aus schlafhistorischer Sicht seien noch zwei Details besonders hervorgehoben. Das ist zum einen die zu recht kritische Auseinandersetzung mit der momentan sehr populären These Roger Ekirchs [1], der vormoderne Mensch habe den Nachtschlaf unterbrochen, um sich nach einer kurzen Pause ein zweites Mal schlafenzulegen. Die Quellenbasis der These ließe sich wohl sogar noch stärker kritisieren, Osten stellt aber besonders heraus, dass entgegen Ekirchs Behauptung die aktuelle Schlafmedizin ein solches Schlafmuster nicht stützt, und warnt vor biologistischer Argumentation. Ihr gegenüber betont Osten die Rolle kultureller Bedingungen (25f.). Zum anderen verdankt die Forschung Ostens Gründlichkeit und Quellenkritik eine erhellende bibliografische Korrektur: Hufeland hat, anders als bislang angenommen [2], keine Schrift mit dem Titel "Der Schlaf und das Schlafzimmer" verfasst. Es handelte sich dabei um einen Raubdruck von 1803, dessen nähere Analyse Osten aber trotzdem unternimmt, auch um auf verlegerische Praktiken der Zeit und den Umgang mit Hufelands absatzstarker und im "Tor zur Seele" ebenfalls untersuchter "Makrobiotik" einzugehen sowie anhand des Abgleichs mit dem "echten" Hufeland einige Diätetikthesen weiter zu schärfen (218-233).
Wohltuend reflektiert ist auch der Umgang des Autors mit einer Reihe von Abbildungen in dem übrigens gut lektorierten Buch. Oft freut man sich ja schon, wenn historiografische Monografien überhaupt mit Bildmaterial aufwarten. Osten hat eine kleine, aber feine Auswahl an Gemälden, Fotos, Grafiken, Quellenreproduktionen und anderem zusammengestellt, die nicht nur illustrativen Charakter hat, sondern in die Argumentation einbezogen und somit Teil des umfangreichen Quellenmaterials wird.
Osten ist ein profunder und breit gebildeter Kenner seiner Materie und schreibt ausgesprochen lesbar. Er bewegt sich mit Leichtigkeit in der für gegenwärtige Leserinnen vielleicht zunächst verschwurbelt wirkenden Philosophie der Romantik und bündelt griffig, was sie wirklich brauchen. Das macht es leichter, sich auf die Argumentationen der Naturphilosophie einzulassen. Osten streicht dabei immer wieder die Wissenschaftlichkeit der Naturphilosophie heraus - hier mag man ihm gerne folgen. Wo immer Gefahren bestanden haben mögen, sich in die Fallstudien allzu sehr hineinziehen zu lassen, hat der Autor sie umschifft. Er analysiert mit dem rechten Maß an Nähe und Distanz: Er kennt "seine" Somnambulen, gerade weil er Fragen nach ihren Lebensumständen stellt, die in den Gutachten der Ärzte und Geistlichen kein Thema waren und die teils erkennbar aufwändige Recherchen erforderlich gemacht haben, aber er lässt sich von ihnen nicht bezaubern. Auch was die vielen unterschiedlichen Quellen betrifft, die er heranzieht, gelingt die Balance von Nähe und Distanz: Wir dürfen ihm in die Analyse einzelner Textstücke folgen - etwa dem Selbstzeugnis der siebzehnjährigen Franziska Kurz aus dem württembergischen Obersulmetingen, abgedruckt auf Seite 104 -, bekommen aber eine großen Rahmen als Kontext - von der Naturphilosophie über theologische Positionen bis zu handfesten Machtfragen.
Anmerkungen:
[1] A. Roger Ekirch: At day's close. A history of nighttime, New York / London 2015.
[2] z. B. Sonja Kinzler: Das Joch des Schlafs. Der Schlafdiskurs im bürgerlichen Zeitalter, Wien / Köln / Weimar 2011.
Sonja Kinzler