Veerle Fraeters / Imke de Gier (eds.): Mulieres Religiosae. Shaping Female Spiritual Authority in the Medieval and Early Modern Periods (= Vol. 12), Turnhout: Brepols 2014, XX + 311 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-54912-5, EUR 90,00
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Die Bezeichnung Mulieres religiosae hat sich in der Forschung für die Protagonistinnen der Viten religiöser Frauen aus dem Umkreis des Augustinerchorherren Jakob von Vitry und der Zisterzienserabtei Villers in Brabant eingebürgert, die in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts im Bistum Lüttich ein religiöses Leben außerhalb des Klosters geführt und dieser neuen selbständigen Form weiblicher Religiosität, die auch als Vorstufe zu den Beginen anzusehen ist, zu einer gewissen Bekanntheit verholfen hatten. Im vorliegenden Sammelband, der die Beiträge zu einer von Veerle Fraeters (Ruusbroec Institut der Universität Antwerpen) und Barbara Baert (Katholische Universität Leuven) im Jahre 2007 abgehaltenen internationalen Tagung in Antwerpen enthält, wird die Bezeichnung hingegen als Oberbegriff für alle Erscheinungsformen weiblicher Religiosität verwendet und so eine Zusammenschau angestrebt, die jenseits der Institutionen zu den zentralen Inhalten weiblicher Spiritualität vordringen möchte. Ausgehend von der Beobachtung, dass religiöse Frauen nicht über die gleichen Durchsetzungsmöglichkeiten wie Männer des geistlichen Standes verfügten, stellte sich die Tagung insbesondere der Frage, wie sich spirituelle Autorität von Frauen im Mittelalter konstituierte und welche unterschiedlichen Ausprägungen diese bis zur frühen Neuzeit erfuhr. Der Band ist chronologisch angeordnet, die Auswahl der Beispiele bewusst ordens-und statusübergreifend, wobei neben einigen bekannten Vertreterinnen weiblichen Religiosentums auch die geistliche Kommunität als Ganze in den Blick genommen wird.
Den Anfang macht eine Untersuchung von Maria Eugenia Góngora zum Liber revelationum de sacro exercitu virginum Coloniensium der Elisabeth von Schönau (1129-1164) (Elisabeth von Schönau and the Story of St. Ursula'). Der Liber enthält die Visionen zur Beförderung des Ursula-Kultes in der Stadt Köln, die Elisabeth den Ruf und die Autorität eines von Gott auserwählten Instrumentes eintrugen. Durch den Benediktiner Gerlach von Deutz dazu aufgefordert, die Ungereimtheiten zwischen den neuen archäologischen Funden zu der Begleitarmee der Heiligen und den älteren Texten der Ursula-Legende aufzuklären, macht sich Elisabeth laut Góngora zur Schiedsrichterin über das Heilige. Ob man nach dieser Interpretation den Visionen Elisabeths auch die Absicht unterlegen darf, ein eigentliches Ermittlungsverfahren ('judiciary inquest') als Teil eines beabsichtigten Kanonisationsprozesses eingeleitet zu haben, muss aber noch durch weitere Untersuchungen zum Umfeld der Kölner Benediktiner erhärtet werden.
Ebenfalls den sanctimoniales des Hochmittelalters gewidmet ist die ikonographische Studie von Andrea Worm (''You shall all live together in harmony and spiritual unity': Images of Abbesses and Female Religious Communities in the Empire'). Sie zeigt anhand eines reichen Bildmaterials aus Handschriften des ausgehenden 10. bis 12. Jahrhunderts den Wandel, den die gregorianische Reform bei der bildlichen Darstellung der Äbtissin und des Nonnenkonvents bewirkt hat. Wurden anfänglich in Anlehnung an ottonische und salische Herrschaftsbilder nur die Vorsteherinnen der hochadligen Klöster und Stifte visuell hervorgehoben, so tritt im 12. Jahrhundert die religiöse Gemeinschaft des Konvents in den Vordergrund. Diese kollektive Selbstrepräsentation ist nach Worm gekennzeichnet durch eine starke Nähe zu Christus und Maria sowie zum Evangelisten Johannes als custos virginum.
Vier weitere Beiträge beschäftigen sich mit bekannten Frauengestalten des 13. bis 15. Jahrhunderts. Viktória Hedvig Deák ('Beguines in Hungary? The Case of St Margareta of Hungary (1242-71): A Mystic without a Voice') nimmt sich der Heiligen Margareta von Ungarn an, die selber nie Schriften hinterlassen hat, gleichwohl aber von der Autorin als 'Mystikerin' bezeichnet wird. Sie schließt dies aus Zeugenaussagen im Kanonisationsprozess, der 1271-1276 von ihrem Bruder König Stephan V. bei der Kurie unter dem Dominikanerpapst Innozenz V. angestrengt worden war. In diesem Zusammenhang entstand auch die älteste Legende der Heiligen, die von der jüngeren neapolitanischen Legenda Maior zu unterscheiden ist. [1] Nach der Analyse von Deák stellt die von einem Dominikaner verfasste Legenda vetus Margaretha in die Reihe der Mulieres religiosae von Lüttich. Sie erwähnt interessanterweise auch das Zeugnis von Beginen, die zu jenem Zeitpunkt der gleichen von Armut, Buße und kontemplativem Gebet geprägten neuen Spiritualität nachgelebt hätten. Margareta wurde der Autorin zufolge auf diese Weise postum zur Autorität und Lebensregel für die religiositas beguinarum in Ungarn. Dieses Ergebnis ist auch für die Beginenforschung von Bedeutung, wird doch der Anteil der Dominikaner an der Entstehung dieser Frömmigkeitsform gerne unterschätzt.
Eine gänzlich andere Spiritualität präsentiert die anonyme Vita der Zisterzienserin Lukardis von Oberweimar in Thüringen, der sich Piroska Nagy zuwendet ('Sharing Charismatic Authority by Body and Emotions: The marvellous life of Lukardis von Weimar (c. 1262-1309)'). Bei ihrem Beitrag handelt es sich um die gekürzte und leicht veränderte Fassung eines Artikels, der bereits in einem Tagungsband zur Geschichte der Affekte und Gefühle im Mittelalter erschienen ist. [2] Nagy interessiert sich darin vor allem für die emotionellen Aspekte der von schwerer Krankheit gezeichneten Mystikerin, die in der Überwindung körperlichen Leidens mit Gottes Hilfe der Passion Christi gleichgestaltet wird und daraus Anspruch auf spirituelle Autorität über ihre Mitschwestern ableiten kann.
Am Beispiel der 1310 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilten Margareta Porete setzt sich Imke de Gier ('Text as Authority: Marguerite Porete's Mirouer des Simples Ames') mit dem Problem auseinander, mit welcher Strategie eine Frau, der die kirchliche Anerkennung verweigert wurde, dennoch spirituelle Autorität beanspruchen kann. Die Antwort Giers dazu lautet, dass bei Margareta, die in ihrem Buch ganz andere Wege einschlug als die herkömmliche Frauenmystik, allein der Text und eine durch den Text erleuchtete Zuhörerschaft Autorität begründen. Zentrales Mittel ist dabei das Sprechen in allegorischen Figuren und die absolute Anerkennung der Autorität der Liebe.
Für Anneke B. Mulder-Bakker ('The soft Face of Power: Jeanne de Valois and Female Authority in the Middle Ages') ist Johanna von Valois, Schwester des französischen Königs Philipp VI. von Valois (1328-1350) und Gattin Wilhelms I. von Bayern († 1337), Graf von Holland, Seeland und Hennegau, ein besonders geeignetes Beispiel für die Fragestellung des Bandes. Ausgestattet mit der Autorität ihrer Herkunft, fällt ihr als Witwe nach dem Eintritt in das Zisterzienserinnenkloster Fontenelle zusätzlich die Autorität einer mulier religiosa zu. So gelingt ihr laut der chronikalischen Überlieferung die Beendigung der ersten Phase des Hundertjährigen Krieges, was Mulder-Bakker Anlass zu weitreichenden Schlüssen hinsichtlich der friedensstiftenden Funktion von Frauen in der Gesellschaft im Allgemeinen gibt, für die sie sich vor allem auf die Untersuchungen des niederländischen Verhaltensforschers Frans de Waal stützt. Nicht ausgeleuchtet werden hingegen die konkreten Umstände und politischen Interessen dieser Friedensdiplomatie.
Die Offenbarungen der englischen Reklusin Juliana von Norwich (gest. vor 1413) gehören zu den frühesten Texten der volkssprachlichen religiösen Literatur in England. Kathleen Smith unterzieht die in zwei Fassungen überlieferten Schriften Julianas einer genauen Sprachanalyse ('Language and Authority in Julian of Norwich's Showings'). Ausgehend von der bekannten Sentenz 'All shall be well' aus der ersten Offenbarung betont die Autorin den repetitiven, an Zaubersprüche gemahnenden Duktus dieser Literatur, der die Volkssprache als ein Instrument göttlichen Sprechens erscheinen lässt und dieser besondere Autorität verleiht.
Sylvie Duval ('Mulieres Religiosae and Sorores Clausae: The Dominican Observant Movement and the Diffusion of Strict Enclosure in Italy from the Thirteenth to the Sixteenth Century') geht der Frage nach der Durchsetzung der strengen Klausur nach, die mit der Bulle Periculoso (1298) zur allgemeinen Vorschrift für das Leben religiöser Frauen erklärt worden war. Sie weist zu Recht darauf hin, dass es vor allem die Observanzbewegungen der Bettelorden waren, die dieser Norm zum Durchbruch verholfen hatten. Ihr besonderes Interesse gilt dem ersten observanten Dominikanerinnenkloster Santa Catarina d'Alessandria in Pisa (reformiert 1387), das für alle reformierten Dominikanerinnenklöster diesseits und jenseits der Alpen künftig als Modell eines Kloster mit strenger Klausur diente.
Einen interessanten Einblick in die wenig bekannte Buchproduktion der Abtei Vadstena gibt der Aufsatz von Eva Lindquist Sandgren ('Book Illumination in the Bridgettine Abbey of Vadstena'). Die schwedische Kunsthistorikerin untersucht die Bibliotheken des als Doppelkloster angelegten Mutterhauses des Birgittenordens. Das häufige Vorkommen marianischer Themen deutet ihr zufolge auf das Amtsverständnis der Äbtissin, deren Autorität in der Nachfolge Marias begründet liegt.
Um das Selbstverständnis weiblicher Führungspersönlichkeiten in der Devotio moderna geht es im Beitrag von Mathilde van Dijk ('Female Leadership and authority in the Sisterbook of Diepenveen'). Die Autorin wertet dazu das Schwesternbuch des unter Aufsicht des Kapitels von Windesheim stehenden Frauenklosters St. Agnes und Maria in Diepenveen bei Deventer aus. Am Beispiel der postumen Vita der langjährigen Priorin Salome Sticken († 1449) zeigt sie auf, wie in den Gemeinschaften der Devotio moderna allein der persönlich erworbene Tugendfortschritt und die daraus abgeleitete spirituelle Vorbildfunktion für die anderen Schwestern Charisma und Autorität zu begründen vermag.
Der Band schließt mit zwei Fallstudien zum weiblichen Religiosentum in der frühen Neuzeit, die wiederum ganz neue Facetten des Themas aufscheinen lassen. So beschäftigt sich Ping-Yuan Wang ('Neither ex officio nor ex gratia: The Brussels Visitandines Discources of Authority and the Collective Self, 1668-99') mit den Rundbriefen der Visitandinnen von Brüssel, mit denen der Konvent jährlich Rechenschaft ablegte. Die Briefe zirkulierten unter den anderen Niederlassungen des 1610 von Franz von Sales und Johanna von Chantal gegründeten Ordens. Sie erwähnen keine mystischen Höhenflüge, sondern sprechen vom täglichen Leben der Schwestern, von ihren materiellen Nöten und Problemen. Sie sind gerade dadurch - und hier wird man der Autorin zustimmen - ein authentisches Zeugnis für das kollektive Selbstbewusstsein einer Ordensgemeinschaft der nachtridentinischen Epoche.
Der zweite Beitrag von Caroline Giron-Panel ('Piae Virgines Choristae: Musicians for the Greater Glory of God and the Venetian Republic') führt in die ganz andere Welt der venezianischen Waisenhäuser. Es handelt sich um wohltätige Stiftungen, die von der Kommune unterhalten wurden und in denen insbesondere die Mädchen eine sorgfältige musikalische Erziehung erhielten. Das Instrumentalspiel und der Gesang der Choristae sollten die Liturgie zu Ehren Gottes und der Republik Venedig bereichern, den professionell ausgebildeten Musikerinnen ermöglichte man dafür mit einer Mitgift den späteren Eintritt in ein Kloster.
Überblickt man die Fülle der Gesichtspunkte, die hier zusammengetragen wurden, so wird man dem ansprechenden Band attestieren, dass sich die Suche nach einer geschlechtsspezifischen Konstituierung von Autorität gelohnt hat. Die Fokussierung auf die Gender-Perspektive hat - bei aller Verschiedenheit der Ansätze - in der Gesamtschau den Blick geschärft für das Selbstverständnis der Mulieres religiosae und der ihnen jeweils zugewiesenen Rolle in Kirche und Gesellschaft.
Anmerkungen:
[1] Vgl. V. H. Deák: The Birth of a Legend: the So-called Legenda Maior of Saint Margaret of Hungary and Dominican Hagiography, in: Revue Mabillon N.S. 20 (2009), 87-112.
[2] Vgl. Piroska Nagy: Sensations et émotions d'une femme de passion: Luckarde d'Oberweimar († 1309), in: Le sujet des émotions au Moyen Âge, éd. p. Piroska Nagy / Damien Boquet, Paris 2008, 323-351.
Martina Wehrli-Johns