David Eugster / Sibylle Marti (Hgg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Wissens- und Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa (= Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung; Bd. 21), Essen: Klartext 2015, 300 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-3-8375-1275-5, EUR 29,95
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Jan Hansen begann vor kurzem seine Beurteilung dieses Sammelbandes mit folgenden Worten: "Der Kalte Krieg war ein imaginärer Krieg. Er fand weniger auf Schlachtfeldern, sondern vor allem in den Köpfen der Menschen statt. Er beruhte auf Einbildungskraft und war dort am präsentesten, wo sich Zeitgenossen von Feindbildern leiten ließen." [1]
An dieser Einschätzung ist nichts auszusetzen - und dennoch hätte man ebenso gut Folgendes schreiben können: "Der Kalte Krieg war kein imaginärer Krieg. Er fand auf den Schlachtfeldern von rund 150 heißen Kriegen und Konflikten statt und kostete etwa 20 Millionen Menschen das Leben. Er beruhte auf manifesten geopolitischen und ökonomischen Interessen und war dort am präsentesten, wo die Zeitgenossen ihre strategischen Ziele bedroht sahen." Der Kalte Krieg bedeutete reale physische Gewalt bis hin zum Genozid, er zerschmetterte Nationen, konsolidierte Diktaturen, trieb ganze Bevölkerungsgruppen in die Diaspora, löste Hungersnöte aus und entging bei einem knappen Dutzend Gelegenheiten nur um Haaresbreite der nuklearen Eskalation.
Keine dieser zwei Sichtweisen ist komplett richtig oder falsch. Der Kalte Krieg hatte eine duale Natur. Zudem war die Geografie ein entscheidender Faktor und bestimmte sein Gesicht. Den beiden Herausgebern dieses Bandes, David Eugster und Sybille Marti, ist dies durchaus bewusst und sie beginnen die Einleitung mit einem klugen Disclaimer: Einer zynischen (und eurozentrischen) Intellektualisierung des Kalten Krieges wollen sie nicht das Wort reden - und selbst in Europa waren beispielsweise die Ängste vor einem Atomkrieg oder einer Invasion "keine bloßen Hirngespinste" (3). Stattdessen verstehen sie das Imaginäre als einen "Suchbegriff", der einen "Anteil an der Ausprägung und dem Verlauf des Kalten Krieges" habe (6). Der Genitiv im Titel ist also entscheidend: Es geht Eugster und Marti um eine sehr spezifische Dimension des Kalten Krieges, die weniger anhand von Akteuren und Ereignissen, sondern vielmehr durch die "kollektiven Sinngebungen und symbolischen Deutungsmuster" sichtbar zu machen ist - gemeint sind damit etwa die Inszenierung, Ausmalung und Materialisierung des Kalten Krieges (4-5).
Dieser Ansatz spiegelt sich in den vier Teilen des Sammelbandes mit insgesamt elf Beiträgen wieder. Der erste Teil beschäftigt sich mit Metaphern, wobei dieser Begriff weit gefasst ist und sowohl die in Beton gegossene Metapher der Schweizer Atomschutzarchitektur als auch sprachliche und künstlerische Ausdrucksformen (z.B. DDR-Dokumentarfilm) miteinander verknüpft. Letzteres wird in dem Beitrag von Philipp Sarasin deutlich, der aus gutem Grund gleich an erster Stelle platziert wurde. Sarasin argumentiert, dass sich der Begriff des "Westens" im Sprachgebrauch und als imaginiertes Konzept zur Ordnung der Welt in einem relativ schmalen Zeitfenster durchsetzte (und seinen Zenit überschritt), nämlich zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Kubakrise. Sarasin behauptet freilich nicht, dass "der Westen" ausschließlich ein Konstrukt des (ersten) Kalten Krieges sei. Vielmehr arbeitet er ein wichtiges Leitmotiv des gesamten Bandes heraus, nämlich das der - in diesem Fall nicht nur geografischen, sondern auch semantischen und diskursiven - Grenzen des Ost-West-Konflikts: "Der Kalte Krieg war ein Krieg der Grenzziehung, der physischen und ideologischen Trennung von zwei Welten" (20). Damit einher geht natürlich auch immer die Frage nach der Durchlässigkeit solcher Grenzen, die Sarasin als "äußerst permeabel" beziehungsweise "semi-permeabel" versteht (36).
Weitere Beiträge in den folgenden drei Teilen des Bandes verdeutlichen das bisher kaum ausgeschöpfte Potenzial von "Grenzen" als Schlüsselkonzept für neue Studien zum Kalten Krieg. In Sybille Martis Beitrag lösen etwa die Simulationen des Kalten Krieges "die Grenze zwischen Realem und Imaginärem" auf (245); bei David Eugster werden Werbefachleute und PR-Experten zu Protagonisten einer geistigen Grenzverletzung durch mind control und Propaganda (141-143); die von Robert Leucht untersuchten Ingenieure des Kalten Krieges verdeutlichen hingegen die Durchlässigkeit der Systemkonkurrenz und den Wissenstransfer über die Blockgrenzen hinweg (115).
Ingenieure, Werber und verschiedene Arten von "Subversiven" - dies sind zugleich auch die (Sozial-) Figuren, mit denen sich der zweite Teil des Bandes beschäftigt. David Eugsters Beitrag über die Werbe- und PR-Firma des Schweizer Antikommunisten Rudolf Farner ist ein interessantes Lehrstück über die Fragilität der "Gewissheiten" des Kalten Krieges (149). Während es wenig überraschen mag, dass Farner durch seine PR für Rüstungsfirmen und Wehrvereine zum Feindbild der Linken in der Schweiz wurde, rief seine Arbeit auch verblüffende Ambivalenzen und Abwehrreaktionen im konservativen Lager hervor. Am Ende war es eine Abneigung gegen Manipulation per se, die sich hier zeigte. Schweizer Intellektuelle und Politiker setzten sich gegen eine Invasion des Unterbewusstseins zur Wehr und skizzierten Propaganda und Subversion beider Supermächte als eine in ihrem Wesen gleichartige Bedrohung (149). Eugsters Aufsatz wirkt zwar mitunter etwas kleinteilig (zumal die Bekanntheit Farners insbesondere außerhalb der Schweiz begrenzt sein dürfte), aber er lädt zu einem fesselnden Gedankenspiel ein: Plötzlich sind es Exponenten US-amerikanischer Interessen, die als "fünfte Kolonne" gelesen werden. Dies illustriert, wie aufschlussreich der Blick auf die innenpolitischen Aushandlungsprozesse der neutralen Staaten des Kalten Krieges sein kann, die in westeuropäischer Perspektive häufig ausgeblendet werden.
An dieser Stelle ist ein kritisches Wort zur geografischen Abdeckung des Sammelbandes angebracht, die auch im dritten Teil zum Thema Emotionen auffällt. Während dieser Teil ausschließlich Beiträge zur DDR enthält, beschäftigen sich die restlichen acht Aufsätze zum überwiegenden Teil mit der Schweiz oder Österreich. Allein die Texte von Sarasin und Leucht transzendieren diese relativ eng gefasste "Dreistaatenlösung". Wäre die DDR nicht dabei, könnte der Band leicht dem (eigentlich unnötigen) Vorwurf zum Opfer fallen, es sei ja kein Wunder, dass man sich in der Schweiz und Österreich gerne mit dem "imaginären Kalten Krieg" befasse, wo sich der Konflikt dort offenbar auf das wohlige Grauen möglichst realistisch explodierender Atombombenattrappen (siehe Cover) und den Bau landschaftskonformer Bunkeranlagen beschränke. Dieser Vorwurf würde allerdings zwei wichtige Punkte übersehen. Erstens zeigen die Beiträge geradezu überdeutlich, wie tief sich der Kalte Krieg auch noch in den letzten Winkel der Gesellschaft einschrieb. Zweitens mag der Band zwar im engeren Sinne des Wortes "eurozentrisch" sein, beschäftigt sich aber zu weiten Teilen gerade nicht mit den "üblichen Verdächtigen". In gewisser Weise lagen auch die Schweiz und Österreich an der (nicht-geografischen) Peripherie des Kalten Krieges, was seine Tiefenwirkung dort umso beeindruckender macht.
Der mit nur zwei Beiträgen kürzeste, aber äußerst anregende vierte Teil des Bandes beschäftigt sich mit Simulakren. Gemeint sind damit die gesellschaftlichen Effekte von Simulationen - und letztere sind in der Tat ein ungemein ergiebiges Forschungsfeld für die Cold War Studies, mit dem sich problemlos ein weiterer Sammelband befüllen ließe. Während sich Joe Deville und Michael Guggenheim in ihrem soziologisch orientierten Beitrag mit der "kulturellen Produktion" von Risiken und dem relativen Bedeutungsverlust des Atomkriegsrisikos befassen (270), ist Sybille Martis Beitrag ein exzellentes Beispiel für die ungewollte Feedback-Schleife, die von Simulationen ausgelöst werden kann. In anderen Worten: Indem sich die Schweizer Verteidigungsübungen zwischen 1956 und 1971 bis ins kleinste Detail um realistische Übungsparameter bemühten und zugleich bestrebt waren, im Sinne totaler Verteidigung alle Bereiche der Gesellschaft einzubeziehen (Bankwesen, Handel, Verwaltungsbeamte, Landwirtschaft etc.), schwand ihr "Spielcharakter" zunehmend (258-259). Diese totalen Simulationen erzeugten stattdessen komplexe und unvorhergesehene Wechselwirkungen mit der Realität - ähnlich wie die Kunst zwar das Leben, aber das Leben auch stets die Kunst imitiert. Darüber hinaus illustriert Martis Beitrag auch, wie wichtig der Blick für das Detail in der Geschichtswissenschaft ist. Erst durch die plastische Schilderung der Übungsszenarien, für die man nach realen Vorbildern komplette Boulevardzeitungen und fiktive linke Protestveranstaltungen ersann (inklusive spanischer Gastarbeiter und französischer Soziologen als Sprecher), wird ihr Charakter eines Spiegelbildes deutlich (260). Indem solche Imaginationen hochaufgelöst Teile der Wirklichkeit reflektierten, übersetzten sie den Kalten Krieg in ein greifbares Schauspiel und perpetuierten ihn: Spiegelbild und Realität verschmolzen immer stärker miteinander.
Insgesamt hinterlässt der Sammelband somit einen positiven Eindruck. Seine geografischen Beschränkungen sind zwar nicht zu übersehen, aber dies tut seiner Dichte an interessanten Details und den Denkanstößen keinen Abbruch. Vielleicht wäre dennoch ein Chance damit verbunden gewesen, genauer zu fragen, welche Gemeinsamkeiten der deutschsprachige Raum als ein regionales theater of the Cold War aufwies - denn mit genau diesem beschäftigen sich praktisch alle Kapitel des Buches. Doch auch so finden sich hier - wie der Untertitel verspricht - anregende Beiträge zur europäischen Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes.
Anmerkung:
[1] Jan Hansen: Rezension zu: David Eugster / Sibylle Marti (Hgg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa, Essen 2015, in: H-Soz-Kult, 02.07.2015, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22992.
Klaas Voß