Rezension über:

Sebastian Voigt: Der jüdische Mai '68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 22), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 383 S., 5 Abb., ISBN 978-3-525-37036-0, EUR 69,99
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Rezension von:
Silja Behre
Universität Bielefeld
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Empfohlene Zitierweise:
Silja Behre: Rezension von: Sebastian Voigt: Der jüdische Mai '68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/26775.html


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Sebastian Voigt: Der jüdische Mai '68

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Im Mai 1968, so erinnern zahlreiche ehemalige "68er", hat die Zukunft begonnen. Es schien, als könne Geschichte gestaltet, verändert werden. Sebastian Voigt dreht die Perspektive um. In seiner Studie über den "jüdischen Mai '68" argumentiert er: Weniger die Zukunft, sondern die Vergangenheit prägte die Handlungsmotivation zentraler Akteure der Protestbewegung. Daher lege der Pariser Mai '68 eine Konstellation offen, "in der sich mehrere Zeitebenen - Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte - in einem kurzen Moment verdichten" (13).

Sebastian Voigt zeigt dies am Beispiel dreier Akteure - Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann. So unterschiedlich ihre Rolle und Interpretation der französischen Mai-Ereignisse auch ausfallen mochten, alle drei schrieben der Demonstration vom 22. Mai 1968 im Nachhinein eine besondere Bedeutung zu. An diesem Tag waren Tausende durch die Straßen von Paris gezogen und hatten in Solidarität mit dem ausgewiesenen Daniel Cohn-Bendit skandiert: "Wir sind alle deutsche Juden" (12). Pierre Goldman hat dies rückblickend verärgert als Anmaßung empfunden. Für Daniel Cohn-Bendit wurde dieser Moment in der Retrospektive zu einer Bewusstwerdung seiner Herkunft. André Glucksmann deutete die Parole im Nachhinein als Ausgangspunkt eines neuen jüdischen Selbstverständnisses und einer Wiederkehr des Verdrängten.

Ausgehend von der Demonstration des 22. Mai 1968 und den divergierenden Deutungen seiner drei Protagonisten, verfolgt Voigt die These, "dass die verschiedenen Wahrnehmungen der Parole 'Wir sind alle deutsche Juden' letztlich Resultat des jeweils anderen, stets familiär bedingten erfahrungsgeschichtlichen Hintergrunds waren" (12). Ohne den familiengeschichtlichen Erfahrungshintergrund und dessen Verquickungen mit der europäischen Geschichte der Zwischenkriegszeit, mit spezifisch jüdischen und kommunistischen Geschichtserfahrungen, lassen sich - so der Tenor der Studie - Leben, Werk und Wirkung von Goldman, Cohn-Bendit und Glucksmann nicht vollständig verstehen.

In seiner Analyse legt Voigt die "Gedächtnisschichten" (23) als "erfahrungsgeschichtliche[r] Grundlage" (23) auf Basis von (auto-)biografischen Zeugnissen, von Archivquellen und Presseberichterstattung frei. Wie geht der Autor vor? Er zielt auf eine Verbindung von Gedächtnisgeschichte und Biografieforschung, erteilt einer analytischen Herangehensweise im Sinne einer objektunabhängigen Methode aber eine Absage. Aus diesen Prämissen leitet Voigt die Struktur seiner Studie ab, die am Leipziger Simon-Dubnow-Institut als Dissertation entstand: In drei Kapiteln und mit zahlreichen chronologischen Rückblicken nimmt sie den Leser mit auf eine geografische Reise durch das Alte Europa bis in den Nahen Osten und auf eine Reise durch die Zeit, die bis an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückführt.

Diese Reise beginnt in Paris. Das erste Kapitel zeichnet die Geschichte des 1944 als Sohn polnischer Juden und kommunistischer Widerstandskämpfer in Frankreich geborenen Pierre Goldmans nach. Der in Deutschland kaum bekannte Akteur der französischen Linken hatte sich in seiner Jugend in der Kommunistischen Partei Frankreichs engagiert, war 1968/69 Guerillero in Südamerika, schlitterte nach seiner Rückkehr nach Frankreich in die Kriminalität und wurde in einem Prozess des Mordes während eines Raubüberfalls angeklagt. Er beteuerte seine Unschuld, wurde von namhaften Intellektuellen unterstützt, verbüßte wegen anderer Straftaten in den Siebzigerjahren eine mehrjährige Haftstrafe, während der er zum Schriftsteller wurde. 1979 wurde er auf offener Straße in Paris erschossen. Sein Leben war, wie er selbst gesagt hatte, geprägt von der Idee, zu spät geboren worden zu sein. Goldman habe, so Voigt, "die verlorenen Kämpfe der Vergangenheit in einer anderen Zeit unter völlig veränderten Umständen fortführen und nachträglich gewinnen" (S. 53) wollen, er war "aus der Zeit gefallen", so der Titel des Kapitels. Weniger Kind des Pariser Mai, sondern geprägt von einer anderen "Gedächtniszeit" (83), spiegle sich in Goldmans Leben "sowohl eine linke als auch eine jüdische Geschichtserfahrung in Frankreich" (33). Sebastian Voigt zeichnet detailliert jene Ambivalenz nach, die Goldman charakterisierte, der durch seine Auftritte und Schriften zu einer Projektionsfläche der französischen radikalen Linken avancierte, Anknüpfungspunkte für verschiedene andere Selbstentwürfe bot und sich zugleich jeglicher Fremdzuschreibung und Vereinnahmung widersetzte.

Die für Goldman herausgearbeitete "Relevanz der Zugehörigkeit" (34) zieht sich als Frage auch durch das Daniel Cohn-Bendit gewidmete zweite Kapitel. Zwar ließe sich, so Voigt, "nicht der gesamte Lebensweg" des 1945 als Sohn deutsch-jüdischer Eltern in Frankreich geborenen Cohn-Bendit "auf den Aspekt der Staatenlosigkeit als jüdische Erfahrung reduzieren" (225). Doch sei die Entwicklung Cohn-Bendits, der sich angelehnt an Hannah Arendt als "Paria" verstand, "Teil der deutsch-jüdischen Erfahrung nach 1933" (225), die Voigt am Beispiel von Cohn-Bendits Eltern analysiert. Mit dem Ehepaar Cohn-Bendit, das sich auf das Netzwerk von deutsch-jüdischen Emigranten wie Ernest Jouhy, Cohn-Bendits Lehrer an der Odenwaldschule, oder Hannah Arendt stützte, will Voigt "Gedächtnisschichten" (226) freilegen, die bis in die Weimarer Republik reichen und nachwirken. Nicht nur habe sich auf den Demonstrationen des Jahres 1968 "in der Rhetorik, der Bildsprache, aber auch in den Parolen" (188), die "latente Omnipräsenz der 'schwarzen Jahre'" der deutschen Besatzung manifestiert, es habe sich auch an Daniel Cohn-Bendit die "intensive Eruption verdrängter Erinnerungsschichten" (188) gezeigt, als sich die Demonstranten mit dem "deutschen Juden" solidarisierten.

Auch bei Voigts drittem Protagonisten, André Glucksmann, der Ende der siebziger Jahre als kommunismuskritischer "Neuer Philosoph" Furore machte und die intellektuellen Debatten Frankreichs bis heute prägt, biete die "Familiengeschichte [...] den Schlüssel zum Verständnis seiner Sicht auf die Gesellschaft" (318). Während die französische Forschung André Glucksmanns intellektuellen Parcours vor allem kritisch als den eines Renegaten charakterisiert, dessen Antitotalitarismus vor allem eine Strategie gewesen sei, sich der eigenen maoistischen Vergangenheit zu entledigen, fügt Sebastian Voigt der Auseinandersetzung mit dem Denker die Vergangenheitsperspektive sowie die Rolle des jüdischen Selbstverständnisses hinzu.[1] Die Glucksmanns Werke prägende "intellektuelle Wandlung" vom Kommunisten, Maoisten zum Antitotalitaristen müsse, so Voigt, als "Zusammenhang von Herkunft und Erkenntnis" (313) begriffen werden. Der Sohn aus kommunistischem Elternhaus, dessen Familie zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus geriet, habe vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen mit seinem Werk versucht, diese "historisch zu würdigen" und mit seiner Menschenrechtspolitik "politisch in die Gegenwart zu tragen" (232). Damit grenzt sich Voigts Perspektive von anderen Darstellungen zur Geschichte der französischen Intellektuellen ab, die die Veränderungen des intellektuellen Feldes in den siebziger Jahren als Ergebnis gegenwartsorientierter Deutungskämpfe und struktureller Veränderungen in Folge des Mai '68 analysieren.[2]

In ihrem Fokus auf die Vergangenheit liegt das Verdienst dieser Studie: Sie löst durch ihre Perspektive den Blick von der etablierten Wandlungserzählung der "68er Generation" und erhellt die historischen Verwicklungen und die familiären Vergangenheiten dreier Protagonisten der französischen Linken. Doch in seiner Analyse der Bedeutung dieser Familiengeschichten für das Werk und das Handeln von Goldman, Cohn-Bendit und Glucksmann folgt Voigt weitestgehend unkritisch ihren Selbstdarstellungen und schreibt damit deren Selbstentwürfe fort. So führt der Titel des "jüdischen Mai '68" leicht in die Irre, stammen die Selbstbeschreibungen doch aus der Nachgeschichte der 68er Bewegung und könnten auch als Reaktion auf die Erfahrung ihres Zerfalls und das Scheitern der mit ihren Nachfolgegruppierungen verbundenen Hoffnungen gedeutet werden.

Und weiter: Zwar war es nicht Anspruch der Studie, einen methodischen Beitrag zu Fragen der historischen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung zu leisten. Doch das ist schade, werfen die von Voigt diagnostizierte Gegenwart der Vergangenheit im Mai '68 sowie seine Begrifflichkeiten - "Erinnerungsspuren" (13) - doch interessante methodische und theoretische Fragen zum Verhältnis von individueller und kollektiver Erinnerung, zur Konstruktion eines familiären Gedächtnisses, zu Konkurrenzen und Abgrenzungen auf, wie sie gerade erst aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ausgelotet wurden.[3]

Trotz dieser Einwände: Mit ihren den Leser mitnehmenden Zeit- und Ortssprüngen entfaltet die Studie ein eindrucksvolles Panorama dreier Familien vor den Verwerfungen der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. In einer Zeit, in der eine Rekordzahl jüdischer Bürger Frankreich in Richtung Israel verlässt, erlaubt Voigts Buch über den "jüdischen Mai '68" einen wichtigen Blick auf die Rolle jüdischer Geschichtserfahrungen für die französische Nachkriegsgeschichte und die Geschichte der politischen Linken.


Anmerkungen:

[1] Z.B.: Isabelle Sommier: Mai 68: sous les pavés d´une page officielle, in: Sociétés contemporaines, 20 (1994), 63-82.

[2] Z.B.: Michael Scott Christofferson: French Intellectuals against the Left. The antitotalitarian moment of the 1970s, New York / Oxford 2004.

[3] Solène Billaud et al.: Histoires de famille. Les récits du passé dans la parenté contemporaine, Paris 2015.

Silja Behre