Dominik Kuhn: Der lateinisch-altenglische Libellus precum in der Handschrift London, British Library, Arundel 155 (= Münchener Universitätsschriften; Bd. 41), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014, 387 S., ISBN 978-3-631-65462-0, EUR 72,95
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Hinter der Signatur London, British Library, Arundel 155 verbirgt sich ein Psalter, dessen Grundstock im frühen 11. Jahrhundert von Eadwig Basan geschrieben wurde. Der Kodex enthält, wie bei Psalterhandschriften üblich, neben den Psalmen weitere Texte wie einen liturgischen Kalender, komputistische Tafeln, eine Einleitung und Gebete zu den Psalmen, Cantica, Hymnen, eine Litanei usw., die seinen Nutzen für den liturgischen wie außerliturgischen Gebrauch erhöhten. Der qualitätvolle Buchschmuck, der Psalmentext und der liturgische Kalender sowie der namentlich bekannte Schreiber, dem eine nicht unbedeutende Rolle in der Ausbildung der 'Anglo-Caroline Minuscule' zugeschrieben wird, haben den Blick verschiedener Disziplinen auf diese Handschrift gelenkt. (15)
Ein Teil des Kodex ist bisher nicht genannt worden: 40 Privatgebete, von denen 39 von der Hand Eadwig Basans stammen. Der Autor versteht diese Texte zurecht als eine systematisch geordnete Sammlung von Gebeten, die er deshalb als libellus precum bezeichnet. [1] Die lateinischen Gebete sind zudem von zwei Händen altenglisch glossiert worden, so dass zu den disziplinär vielfältigen Interessenten an Arundel 155 auch die Anglisten zählen. Hier ist die in Göttingen entstandene Dissertation von Dominik Kuhn einzuordnen. Worum es ihr geht, zeigt bereits der dissertationsmäßig-biedere Titel. Er grenzt nicht nur das Thema präzise ein, sondern verrät im Übrigen auch einiges über den Stil: Freunde schicken Theoriedesigns werden nicht auf ihre Kosten kommen, dafür wird nüchtern und stringent solide Wissenschaft geboten.
Die Edition der 40 lateinischen Gebete und ihrer altenglischen Glossierung ist der Zielpunkt der Untersuchung, auf den die Darstellung konsequent ausgerichtet ist. Dabei grenzt der Autor das Untersuchungsfeld Schritt für Schritt ein. Nach einer ganz knappen Einleitung (15-16) folgt im ersten Kapitel eine Beschreibung der gesamten Handschrift (17-50). Sie beginnt mit einer tabellarischen Übersicht (18-19), die nicht nur einen ersten Überblick über den Inhalt vermittelt, sondern auch den Anlagebestand von späteren Ergänzungen unterscheidet und das Werk Eadwig Basans gegen das seiner Kollegen und Nachfolger abgrenzt. Auf den paläographischen Beobachtungen liegt damit das Hauptgewicht des Kapitels (20-28). Abbildungen ausgewählter Manuskriptseiten (32-36) ermöglichen den Nachvollzug der Argumentation. Recht knapp wird der Buchschmuck behandelt (37-42), danach die Geschichte des Kodex (42-44). Eine abschließende detaillierte inhaltliche Beschreibung (45-50) leitet zum zweiten Kapitel über, das den Gebeten gewidmet ist.
Dieses Kapitel (51-121) beginnt wieder mit einer tabellarischen Übersicht, die einen Überblick über die im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden 40 Privatgebete gibt. Es folgen Erläuterungen zum privaten Beten und Überlegungen zu der Frage, wie der libellus precum benutzt worden sein könnte (57-62). Antworten auf die letztgenannte Frage sind bei frühmittelalterlichen Privatgebetbüchern außerordentlich schwierig, da diese Werke nicht, wie die späteren Stundenbücher, an die liturgische Gebetspraxis anschlossen, untereinander ziemlich verschieden sind und ihre Rubriken nur selten Gebetsanweisungen enthalten. Die Überlegungen enden denn auch mit der Feststellung: "Dieses Modell ist spekulativ, nicht völlig stimmig und lässt daher einige Fragen offen" (62).
Der umfangreichste Abschnitt dieses Kapitels ist der Verbreitung der Gebetstexte gewidmet (63-116). Dafür hat der Autor sämtliche ihm bekannten insularen Handschriften bis ca. 1100, die mindestens eines der 40 Gebete aus Arundel 155 überliefern, herangezogen und die kontinentale Überlieferung, soweit sie im Druck zugänglich ist. Das Ergebnis ist ein beeindruckend breites, freilich schwer zu interpretierendes Panorama. Wiederholt weist er auf die Grenzen des Unterfangens hin: Die Fülle des Überlieferten, dessen unzureichende Erschließung, die "äußerst variable Textgestalt" (51) und die großen Lücken, mit denen man in der Überlieferung rechnen muss. Aus gutem Grund hält er sich deshalb mit Interpretationen zurück und beschränkt sich darauf, den libellus precum als ein frühes Produkt der englischen Benediktinerreform, in deren Kontext zahlreiche Gebetstexte vom Kontinent (re-)importiert wurden, zu situieren.
Standen im zweiten Kapitel die lateinischen Gebetstexte im Vordergrund, ist das lange dritte Kapitel vollständig ihrer altenglischen Glossierung gewidmet (123-207). Hier können lediglich ganz pauschal die Ergebnisse referiert werden, da für eine detaillierte Auseinandersetzung der Platz und dem Rezensent die philologische Kompetenz fehlen. Der Autor verwirft die älteren, pauschalen philologischen Urteile zur Glossierung nicht, sondern präzisiert und differenziert sie. Entsprechend dem kompilatorischen Charakter derartiger Gebetssammlungen kann er zeigen, dass die von zwei Schreiberhänden eingetragenen Glossen ebenfalls kein Werk aus einem Guss sind.
Das vierte und letzte Kapitel bietet schließlich die Edition (209-295). Sie wird durch ein Verzeichnis der lateinischen Gebetsinitien (311-312) und zwei Wortverzeichnisse, ein lateinisch-altenglisches (314-350) und ein altenglisch-lateinisches (351-387) erschlossen. Wie er selbst erklärt (15), ist seine Edition der lateinischen Gebetstexte und ihrer altenglischen Glossierung keine editio princeps, denn Kuhn ist natürlich nicht der erste Anglist, dessen Interesse sich auf Arundel 155 richtet. Allerdings musste man sich bisher die - recht fehlerhaften (116-120) - Editionen der nun erstmals im Zusammenhang edierten Gebetstexte aus verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen zusammensuchen.
Die bemerkenswerte Zielstrebigkeit des Autors lässt freilich auch die eine oder andere Frage am Wegesrand zurück. So gerät nach dem ersten Kapitel der Psalter als ganzer wohl etwas zu schnell aus dem Blick. Welche Funktion der libellus precum im Kontext der Psalmen und übrigen (Gebets-)Texte besaß, wird nur ansatzweise behandelt (60). Die Untersuchung über die Verbreitung der 40 Gebetstexte enthält zwar eine Reihe vergleichender Beobachtungen, aber diese sind vor allem auf die einzelnen Gebete, allenfalls auf gemeinsam tradierte Texte fokussiert. Könnte nicht auch ein Vergleich der Inhalte, des Aufbaus und der Stellung von Gebetssammlungen verschiedener Psalterhandschriften lohnend sein? [2]
Insgesamt aber darf die stringent durchgeführte, vorsichtig-nüchtern argumentierende und deshalb die Bodenhaftung nie verlierende Untersuchung als mustergültig angesehen werden. Nach diesem Vorbild wünscht man sich weitere monographische Behandlungen nicht nur insularer, sondern auch kontinentaler libelli precum.
Anmerkungen:
[1] In Abgrenzung zu eher zufällig auf Vorsatzblättern oder sonstigen freien Stellen notierten Einzelgebeten einer- und von ihm als "Gebetbuch" bezeichneten Sammlungen, die einen ganzen Kodex umfassen, andererseits (15-16).
[2] In diesem Zusammenhang wäre auch eine Auseinandersetzung mit der Position von Susan Boynton: Prayer as Liturgical Performance in Eleventh- and Twelfth-Century Monastic Psalters, in: Speculum 82 (2007), 896-931, interessant gewesen.
Stephan Waldhoff