Hari Vasudevan: In the Footsteps of Afanasii Nikitin. Travels through Eurasia and India in the Twenty-First Century, New Delhi: Manohar 2014, 368 S., ISBN 978-93-5098-025-5
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Im November 2003 fanden in Indien "Tage der russischen Kultur", im September und Oktober 2005 in Russland "Tage der indischen Kultur" statt. Nachdem 2008 in Indien ein "Jahr Russlands" begangen worden war, rief die russische Regierung 2009 ein "Jahr Indiens in Russland" aus. Derartige kulturelle Veranstaltungen konnten auf eine lange Tradition zurückblicken. Bereits zu sowjetischen Zeiten übten sich beide Seiten in Demonstrationen kultureller Verbundenheit. Wechselseitige Kunstausstellungen, Auftritte von Orchestern und Tanzensembles oder Austauschprogramme für Literaten sollten diplomatische, wirtschaftliche und rüstungswirtschaftliche Beziehungen flankieren und abstützen oder auch vorbereiten. In Krisenzeiten mochte der Kulturaustausch politische Differenzen einfach verdecken.
Für die sowjetische Seite war es in der kulturellen Sphäre zudem immer ein Anliegen, eine besondere Nähe der Bevölkerungen beider Staaten zu postulieren und zu zelebrieren. Zugleich sollte hier in Absetzung vom kapitalistischen Systemgegner im Westen die besondere Qualität sozialistischer internationaler Beziehungen hervorgehoben und bestätigt werden. Für diese Zwecke griffen Kulturfunktionäre des Kreml ab den 1940er-Jahren immer auch auf die Person von Afanasij Nikitin zurück. Der Händler aus Tver hatte Ende der 1460er-Jahre eine Geschäftsreise unternommen, die ihn 1470 bis nach Indien führte. Dort ließ er sich in Bidar im Dekkan nieder. Nach gut drei Jahren kehrte Nikitin Indien den Rücken. Er starb 1475, ohne seine Heimatstadt wieder erreicht zu haben. Seine Aufzeichnungen über die Reise sind in Abschriften verschiedener Kopisten erhalten (39-51).
Die UdSSR feierte Nikitin als wirklichen Entdecker Indiens, der auf seinem Weg über das Arabische Meer dem imperialistischen Vasco da Gama um Jahre zuvorgekommen war. Vor allem aber wurde Nikitin zum ersten Botschafter und zum Symbol einer russisch-indischen Völkerfreundschaft stilisiert, die, folgte man dieser Interpretation, im 20. Jahrhundert zur vollen Blüte gelangte. Um diese Deutung zu stützen, mussten sowjetische Exegeten sehr kritische, geradezu rassistische Passagen aus Nikitins "Reise über drei Meere" ignorieren. [1] Vasudevan korrigiert diese Interpretation, indem er Nikitins Beschreibungen im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstwahrnehmungen und im Kontext der Versuche identitätswahrender Selbstbestätigungen eines einzelnen Reisenden verortet (51-68).
Vor dem hier skizzierten allgemeinen Hintergrund indisch-russischer und -sowjetischer Beziehungen ist die indische "Nikitin-Expedition" zu sehen, die im Winter 2006/2007 mit Unterstützung des indischen Außenministeriums und verschiedener Sponsoren Nikitins ehemalige Reiseroute - mit einigen Abweichungen - abfuhr. Die Gruppe setzte sich aus indischen Vertretern verschiedener Interessen- und Arbeitsgebiete zusammen. Unter ihnen befanden sich Experten für Film- und Fotoaufnahmen, für eine journalistische Berichterstattung, für Kulturfragen sowie für die technische Versorgung und Reiseorganisation und -durchführung. Der Autor der vorliegenden Monografie fungierte als Berater. Der Historiker lieferte während der Reise vor allem geschichtliches und politisches Hintergrundwissen für russische und sowjetische Entwicklungen und hinsichtlich der russisch-indischen Beziehungen. Dabei konnte Vasudevan auch aus eigenen reichen Erfahrungsschätzen aus spätsowjetischer und post-sowjetischer Zeit schöpfen. Dieses Wissen findet sich in diesem Band komprimiert wieder. Die Beschreibung ist aus dieser Perspektive ein insgesamt gelungener Versuch, die historische Tiefe heutiger Beziehungen Indiens zu den von Nikitin und seinen Nachahmern bereisten Gegenden - neben Russland und Indien waren Iran und Türkei allerdings eher Durchgangsstationen - zu ermessen. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich Erinnerungen und Geschichtsbilder über die Epochen hinweg aus- und umbildeten. Die bereits skizzierte Instrumentalisierung von Nikitins Handelsreise zu Sowjetzeiten ist hierfür nur ein Beispiel.
Vor allem ist das Buch ein ebenso lebhafter und farbiger wie reflektierter und anregender Reisebericht. Damit ist er auch eine ergiebige Quelle. Historikerinnen und Historiker des Tourismus können dem Buch interessante Beobachtungen über Reisemöglichkeiten sowie über das Beharrungsvermögen sowjetischer Traditionen im post-sowjetischen Raum entnehmen. Zudem sind die Darstellungen naturgemäß Zeugnis indischer Voreinstellungen, die die Kulturkontakte mit prägen. Dabei mutete die Expedition mitunter als offiziöse Delegationsreise an. Immer wieder zeigten sich im Reiseverlauf jedoch auch die gängigen Probleme, die auftreten, wenn sich Individualisten vorübergehend zu einem Projekt zusammentun. Zudem brachten die indischen Reisenden nach Russland eigene, unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe mit. Sie konnten etwa in Hotelstandards "American-style buffet [...] and Russian additions" positiv-weltläufig als dem eigenen Status angemessen oder negativ-kulturkritisch als Signal einer schleichenden kulturell-nationalstaatlichen Selbstaufgabe Russlands einstufen (129).
In dem weiten Feld indisch-russischer Begegnungen und Verflechtungen legt Vasudevans Bericht besonderen Wert auf wirtschaftliche und wissenschaftlich-kulturelle Aspekte. Mit Blick auf die Geschichte politischer und diplomatischer Entwicklungen erweisen sich indische Perspektiven auf Geschehnisse als besonders interessant, wenn sie gängige Sichtweisen aus Westeuropa oder den USA hinterfragen. Das gilt hier unter anderem für Diskussionen der russischen Spielarten des "Kampfes gegen den Terror" (219-220) oder für die Einschätzung geopolitischer Interessen von Ost und West im Kaukasus (247-248, 256). Somit spiegelt die Bestandsaufnahme zugleich eine Multipolarität internationaler Beziehungen wider, wie sie Indien und Russland allgemein sowie insbesondere in ihren bilateralen Beziehungen als eigene Qualität hervorheben. Im Ganzen erweisen sich die Beschreibungen und Erfahrungsberichte von Vasudevan in ihrer kritischen Reflexion der früheren Erlebnisse Nikitins sowie späterer Prozesse vornehmlich in Russland und in der Sowjetunion sowie auf bilateraler Ebene als reiche Sammlung aktueller Beobachtungen - und als Fundgrube für zahlreiche historische Fragestellungen zu Wesen und Gehalt indisch-russischer Beziehungen des 20. und 21. Jahrhunderts.
Anmerkung:
[1] Vgl. Lowell Tillett: The Soviet popularization of Afanasii Nikitin's trip to India: an example of planned publishing, in: Images of India, hg. v. Balkrishna G. Gokhale, New York 1971, 172-191; Hari Vasudevan: The solitude of Afanasii Nikitin in his "Voyage over the Three Seas", in: India International Centre quarterly 30 (2003), 75-88.
Andreas Hilger