Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR (= Forschungen zur Nachkriegsmoderne), Königstein im Taunus: Karl Robert Langewiesche Nachfolger 2013, II + 198 S., 2 Farb-, 200 s/w-Abb., ISBN 978-3-7845-7405-9, EUR 39,80
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Mit Elmar Kossels Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR liegt die erste umfassende monografische Darstellung über den Architekten Hermann Henselmann (1905-95) vor. Dieser Umstand erstaunt umso mehr, da Henselmann nach 1990 fast zwei Jahrzehnte den Diskurs über die DDR-Architektur beherrschte, als sei er der einzige Architekt in einer "Architektur ohne Architekten" gewesen. [1]
Von daher ist Kossels Buch außerordentlich verdienstvoll, gibt er doch einen Überblick über alle Lebens- und Arbeitsphasen Henselmanns und erschließt dabei Quellen, die bisher unberücksichtigt blieben oder unbekannt waren. Zurecht kritisiert er die Verdrängung der Zeit Henselmanns vor 1945 und unmittelbar danach [2] in den Forschungen bis 1990 und distanziert sich von den Versuchen Mitte der 1990er-Jahre, Henselmann zum "Vater der Postmoderne" zu erklären: "Die Beschäftigung mit Hermann Henselmanns Leben und Werk ist dominiert von Legendenbildungen, Fehleinschätzungen, Lücken in Biographie und Werk bzw. wertenden Gewichtungen zugunsten bestimmter Werkphasen." (6)
Es ist jedoch bedauerlich, dass Kossel selbst "weder eine Biographie über Hermann Henselmann noch eine Monographie zu seinem Werk" schreiben wollte, sondern (lediglich) "beispielhaft die Anpassung der Architektursprache [Henselmanns] an wechselnde politische Rahmenbedingungen" (13) verfolgen möchte. Anders als die Herausgeber des Bandes, Adrian von Buttlar und Kerstin Wittmann-Englert, die in ihrem Vorwort das "scheinbar 'altmodische' Genre der Künstlermonographie", zumal wenn es problemorientiert ist, würdigen und gerade darin die Möglichkeit sähen, "Henselmanns offenkundige Fähigkeit zur Adaption verschiedener Moderne-Konzepte und Vorbilder in einem wechselhaften und komplexen historisch-politischen Kontext" (II) zu analysieren, löst Kossel diese Erwartung nicht ein.
Sein stilistisch verengter Moderne-Begriff lässt gerade nicht "verschiedene Moderne-Konzepte" (von Buttlar / Wittmann-Englert) erkennen, sondern folgt der inzwischen selbst schon zu historisierenden und zu hinterfragenden These, wonach "die Moderne [...] zu keiner Zeit an einen bestimmten, auch politischen Inhalt gebunden war." (15) Schon 1984 plädierte Vittorio M. Lampugnani dafür, "mit neuer Gelassenheit die Baugeschichte des 20. Jahrhunderts zu analysieren, um jenseits der etablierten Allgemeinplätze auch das progressive Potential der Tradition und das regressive Potential der Moderne aufzuspüren". [3] Zurecht distanzierte sich Lampugnani von einer "simple[n] Gleichsetzung von architektonischer Form und ideologischem Inhalt", deutete dann aber "stilistische Phänomene" als bloßen "Ausdruck einer kulturellen Autonomie". So erhellend es ist, Kossel bei der Darstellung der Entstehung des Hauses Kenwin durch den Filmarchitekten Alexander Ferenszy und Hermann Henselmann zu folgen, und so richtig es sein mag, hier "eine collagenhafte Verwendung von Architekturteilen und -prinzipien, die hier als Chiffre für die Modernität der Villa eingesetzt wurden" (32) zu erblicken, ja selbst, wenn man die These teilen möchte, Henselmann habe sein Leben lang inszenatorisch gearbeitet, so argumentiert doch Kossel letztlich zirkulär, wenn er meint, dass "sich an der Moderne selbst" zeige, "dass sie als offene Projektionsfläche in Erscheinung" trete und ihr damit das Paradox inhärent sei, "gleichzeitig in verschiedenen politischen Kontexten unterschiedliche, ja gegensätzliche Inhalte transportieren zu können" (34). So wird Henselmanns Werk nur "als Beispiel für diese Grundproblematik der Moderne [ge]lesen, mit einem mehrdeutigen Zeichensystem konkrete politische bzw. gesellschaftlich normative Inhalte verknüpfen zu wollen." (178) [4] In direkter Umkehrung der historischen Debatten der 1930er- bis 1950er-Jahre, als sich der demokratische Westen "modern" und die totalitären Regimes "traditionell" gaben, versucht Kossel nunmehr einer stilistisch kanonisierten "Moderne" nachzuweisen, dass sie politisch völlig indifferent sei. Das führt nicht nur hinter Lampugnani zurück, sondern verweigert auch systematisch den Anschluss an heutige Debatten, den Moderne-Begriff aus der stilistischen Verengung zu führen, die Beziehung von Tradition und Erneuerung überhaupt erst als ein mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft entstandenes Problem zu begreifen, auf dieser Grundlage "verschiedene Moderne-Konzepte" unterscheiden zu können, nach deren Ko-Evolution [5] zu fragen, sich schließlich auch dem Phänomen einer "sozialistischen Moderne" [6] zuzuwenden oder gar nach der Perspektive einer "reflexiven Modernisierung" (Ulrich Beck) zu fragen.
In den Kapiteln V. und VI. stellt Kossel den Schwenk Hermann Henselmanns von der "Moderne" zu den "Nationalen Traditionen" (1950/51) bzw. die "Suche nach einer Moderne im sozialistischen Gewand" (1955ff.) dar. Im Wesentlichen der Darstellung von Jörn Düwel [7] bzw. Düwel, Werner Durth und Niels Gutschow [8] folgend, präsentiert Kossel die historisch-politischen Kontexte dieser historischen Umbrüche in der Bau- und Architekturpolitik der DDR. Da Kossel aber lediglich stilistisch argumentiert, kann er den Ansatz Henselmanns und die Dramatik der Situation für Henselmann nur unzureichend erfassen. [9]
Henselmann hatte zu dieser Zeit sehr gut verstanden, dass "Ein neuer Bauherr [...] erst lernen [muß], Auftraggeber zu werden." [10] Indem er die im Staatssozialismus existierende Arbeitsteilung zwischen Auftraggeber und Architekten erkennt und anerkennt, versuchte er sie nach Art der Dialektik von Herr und Knecht zu traktieren. Der von Henselmann angebotene Pakt, wir unterstützen eure Politik vorbehaltlos, bestimmen dafür aber die Form des zu Bauenden, wurde aber von den Oberen ausgeschlagen. Mit der "Reise nach Moskau" (April/Mai 1950), zu der Henselmann nicht mitgenommen wurde, und auf dem Höhepunkt der Formalismus-Kampagne (1951) geriet Henselmann immer mehr in Bedrängnis, aus der er sich mit seinem Coup beim Wettbewerb für das Hochhaus an der Weberwiese und schließlich mit der demonstrativen Unterwerfung in Gestalt seines Artikels im Neuen Deutschland "Der reaktionäre Charakter des Konstruktivismus" vom 4. Dezember 1951 zu befreien versuchte. Dokumente belegen, dass Henselmann in dieser Zeit mehrfach erwog, die DDR zu verlassen. Aber er blieb, unterwarf sich ideologisch und konnte als Gegenleistung am Strausberger Platz und am Frankfurter Tor bauen. Dabei absolvierte er dennoch "das Unabwendbare mit Glanz [...], besser, als jeder an seiner Stelle es vermocht hätte". Dank der vielen Ausnahmen von der regelhaften Gestaltung "huscht ein Augenzwinkern durch die Symmetrie, individualisiert sich der Baukörper auf eine nur ihm verfügbare Weise. Alle nachfolgenden Gebäude leben von derselben feinen Ironie, treiben denselben sublimen Spott. [...] Vielleicht geht die Anziehungskraft, die die Stalinallee auf ihre damaligen Bewohner und Besucher ausübte, gerade auf diese vertrackte, selbstwidersprüchliche Art der Majestätsbeleidigung zurück. Gut möglich, dass sie dem nicht minder verwickelten Verhältnis der Bürger zu den politischen Majestäten symbolische Gestalt verlieh, also ganz anders zu ihnen sprach als zu den neuen Herren. Dass der Arbeiteraufstand vom Juni 1953 just von hier seinen Ausgang nahm, wäre dann weder purer Zufall noch Missverständnis, sondern Freisetzung, Sichtbarmachung der dem Gemäuer inhärenten Spannung." [11] Gerade die kulturgeschichtliche Perspektive in Wolfgang Englers Buch "Die Ostdeutschen" bietet Gelegenheit, einen stilistisch verengten Begriff der Moderne zu überwinden.
Unabhängig davon bieten die beiden Kapitel eine Fülle sachdienlicher Informationen und Quellen. Schön, dass im V. Kapitel Henselmanns Projekt für einen Kulturpark für die BUNA-Werke von 1949 ausführlich dargestellt wird, während das Projekt eines "Volkswohnungsbaus" für Frankfurt/Oder (Bahnhofstraße 1951/56) leider fehlt. Das VI. Kapitel behandelt die Zeit Henselmanns als Chefarchitekt von Ost-Berlin (1953-1959). Abgesehen von der schon erörterten theoretischen Schranke Kossels, die Architektur in der DDR nur als Rezeption internationaler moderner Architektur, nicht aber auch als Entwicklung einer eigenen sozialistischen Moderne zu begreifen, entfaltet er hier ein gut dokumentiertes Panorama der Projektarbeit Henselmanns in Berlin (Wohnkomplex Friedrichshain, deutsch-deutscher Fennpfuhl-Wettbewerb [12], Entwurf für den zweiten Bauabschnitt der Stalinallee, Ideen für das Zentrum, Hohenschönhausen). Instruktiv auch die Darstellung der Kontroverse von Gerhard Kosel und Hermann Henselmann über das zentrale Gebäude sowie des damit verbundenen Eklats, der 1958 mit der Veröffentlichung des Entwurfs von Henselmann für den zweiten Bauabschnitt der Stalinallee (ab 1961 Karl-Marx-Allee) verbunden war und schließlich zu seiner Ablösung als Chefarchitekt führte. [13]
Kossel versteht Henselmanns "Pantheon der Deutschen" als direkte Antwort auf Kosels Entwurf des Marx-Engels-Forums mit zentralem Gebäude. Henselmann "verzichtet auf ein Hochhaus und monumentale Machtgesten", er "schlug eine offene, von Treppen und Plattformen bestimmte Gebäudeskulptur mit einer Flachkuppel vor. Das Zentrum wird dabei von nur einer schlanken Stahlnadel markiert, die dem Entwurf einen denkmalartigen Charakter gibt." "Der Konflikt der DDR-Architektur, der sich durch die gesamten 1950er Jahre gezogen hatte, das Beharren auf einem Historismus stalinistischer Prägung gegen die Öffnung zu einer sozialistisch konnotierten Moderne, verdichtete sich damit am Ende des Jahrzehnts nochmals in personalisierter Form." (131) So avanciert Henselmanns Projekt vielleicht architektonisch war, so sehr hätte es aber städtebaulich das Zentrum weit über den Marx-Engels-Platz auf der Spreeinsel hinaus zum Aufmarschplatz vor einer endlosen Tribüne gemacht. Auch ist bislang unbekannt, welche Funktion dieses "Pantheon" eigentlich haben sollte. Bemerkenswert dann der Schritt zu einem "Forum der Nation" mit dem "Turm der Signale", einem Parlamentsgebäude und einer Kongresshalle. Bei aller Suche nach zeitgenössischen architektonischen Vorbildern für einzelne Elemente des Entwurfs, übersieht Kossel den wesentlichen Paradigmenwechsel im Verständnis sozialistischer Zentralität: die Ablösung der stalinistischen Herrschaftsdominante durch ein Ensemble von Baukörpern, in deren Mitte das Parlament steht. Hier geht es nicht nur darum, eine kanonisierte moderne Architektursprache wechselnden politischen Zielen anzupassen, sondern Henselmann formuliert im städtebaulich-architektonischen Entwurf selbst neue gesellschaftspolitische Ziele und Zwecke und entwirft deren Vergegenständlichung im Raum der Stadt. Henselmann blieb sich treu, versucht, mit seinem Beitrag im Ideenwettbewerb zum Zentrum der Hauptstadt den Auftraggeber zu bilden, dem er sich verpflichtet fühlte. Moderne Architektur in der DDR zielte auf einen demokratischeren Sozialismus.
Anmerkungen:
[1] So der Titel des DDR-Themenheftes von Arch+ vom 1. April 1990.
[2] Neuerdings: Norbert Korrek: "Die Umgestaltung der Hochschule für Baukunst und bildende Künste Weimar unter ihrem Direktor Hermann Henselmann (1946-1949) und der Neubeginn der Städtebaulehre nach dem Krieg", in: Christoph Bernhardt / Thomas Flierl / Max Welch Guerra: Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse, Berlin 2012, 19-41; demnächst: ders.: "Von Weimar nach Berlin. Von der Akademie der Wissenschaften zur Bauakademie. Henselmanns Verhältnis zu Hans Scharoun", in: Thomas Flierl (Hg.): Hermann Henselmann in seiner Berliner Zeit 1949-1995. Der Architekt, die Macht und die Baukunst (in Vorbereitung).
[3] Vgl. Vittorio M. Lampugnani: "Die merkwürdigen Abenteuer der Architektur unter Hitler und Mussolini. Weder rein noch reaktionär", in: Die Zeit vom 27. Januar 1984.
[4] Kurioserweise wirft er Bruno Flierl vor, mit seiner "Bildzeichentheorie" "die Rezeption einer internationalen Nachkriegsmoderne in Henselmanns Architektur hinter einer sozialistischen Zeichentheorie zu verschleiern" (10), während Kossel selbst sein Moderneverständnis nur semiotisch begründet.
[5] Vgl. Ko-Evolution der Moderne: Karl-Marx-Allee und Interbau 1957. Der Berliner Antrag für die deutsche Tentativliste des UNESCO-Weltkulturerbes, 9. Hermann-Henselmann-Kolloquium am 16. Dezember 2013 (Publikation in Vorbereitung).
[6] Vgl. Sozialistischer Realismus und Sozialistische Moderne, Dokumentation des Europäischen Expertentreffens von ICOMOS über Möglichkeiten einer Internationalen Seriellen Nominierung von Denkmalen und Stätten des 20. Jahrhunderts in Postsozialistischen Ländern für die Welterbeliste der UNESCO, Warschau, 14.-15. April 2013, Berlin 2013.
[7] Jörn Düwel: Baukunst voran! Architektur und Städtebau in der SBZ/DDR, Berlin 1995.
[8] Jörn Düwel / Werner Durth / Niels Gutschow: Architektur und Städtebau der DDR, 2. Bde., Frankfurt/M. 1998.
[9] Sehr informativ: Jörg Kirchner: Architektur nationaler Traditionen in der frühen DDR (1950-1955). Zwischen ideologischen Vorgaben und künstlerischer Eigenständigkeit, eDiss., Hamburg 2010.
[10] Hermann Henselmann, zit. nach: Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (Hg.): "Reise nach Moskau", Quellenedition zur neueren Planungsgeschichte; Dokumente zur Erklärung von Motiven, Entscheidungsstrukturen und Umsetzungskonflikten für den ersten städtebaulichen Paradigmenwechsel in der DDR und zum Umfeld des "Aufbaugesetzes" von 1950 (= Regio doc: Dokumentenreihe des IRS; Bd. 1), Berlin 1995.
[11] Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999, 40f.
[12] Demnächst: Andreas Butter: "Hermann Henselmann und der deutsch-deutsche Wettbewerb zum Wohngebiet Fennpfuhl 1956", in: Hermann Henselmann in seiner Berliner Zeit 1949-1995 (in Vorbereitung).
[13] Vgl. hierzu auch: Bruno Flierl: "Hermann Henselmann - Chefarchitekt von Berlin", in: ebd. (in Vorbereitung).
Thomas Flierl