Anita Krätzner (Hg.): Hinter vorgehaltener Hand. Studien zur historischen Denunziationsforschng (= Analysen und Dokumente; Bd. 39), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 180 S., ISBN 978-3-525-35081-2, EUR 12,99
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Gerade angesichts der Tatsache, dass die Geschichtswissenschaft etliche Jahre benötigte (bis in die 1990er), um sich mit dem Phänomen der Denunziation auseinanderzusetzen, sind Arbeiten zur historischen Denunziationsforschung notwendiger denn je. Tatsächlich waren zahlreiche Vorladungen, Verhaftungen und Strafurteile im NS-Regime nicht, wie häufig angenommen, Folge eigener Beobachtungs- und Überwachungstätigkeit der politischen Polizei, sondern wurden durch Denunziationen aus der Bevölkerung ausgelöst. Mit der Anzeige wurde nicht nur der politische Widerstand verraten, noch häufiger wurde abweichendes Verhalten gemeldet, etwa regimekritische Äußerungen, der Umgang mit Juden, die Verweigerung des Hitlergrußes oder der verbotene Umgang mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Dass die Denunziation weder ein Phänomen der Moderne noch von Unrechtsstaaten ist, muss eigentlich nicht erwähnt werden. Vielmehr hat es Denunzianten zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftssystemen gegeben, wobei sie besonders in politischen Umbruchsituationen in Erscheinung traten. Aber auch nach 1933 spielten freiwillige Anzeigen nicht nur im NS-System eine verheerende Rolle. Bereits im Jahr 1983 wies André Halimi darauf hin, dass in Frankreich während der Besatzungszeit etwa drei bis fünf Millionen Denunziationsbriefe aus der Bevölkerung an die Vichy-Behörden und sogar direkt an die Gestapo geschrieben wurden. Oft richteten sie sich gegen Nachbarn, Arbeitskollegen und Verwandte. [1] Nicht zuletzt die Ereignisse nach dem Zusammenbruch der DDR haben dazu geführt, dass die Frage, welches Gewicht freiwillige Denunziationen in einem Überwachungsstaat haben, neu gestellt wird.
Betrachtet man den aktuellen Forschungsstand, werden insbesondere zwei Problemkreise offensichtlich: Zum einen die Notwendigkeit, die Denunziationspraxis in der DDR-Gesellschaft - losgelöst von der Debatte über die Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit - zu untersuchen, und zum anderen die Dringlichkeit komparatistischer Forschungsansätze. Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Anita Krätzner, einzuordnen, der im Wesentlichen die Ergebnisse des Workshops "Historische Denunziationsforschung: Methoden, Längsschnitte, Vergleichsperspektiven" vom 14. November 2012 im Bildungszentrum des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zusammenfasst. Dabei weist die Qualität der zehn Beiträge, überhaupt die Durchdringung des Untersuchungsgegenstandes - wie vielfach in Sammelbänden - eine erhebliche Variationsbreite auf. Das Themenspektrum reicht von "Habsburger Vertraute, Spione und Denunzianten in Mähren und Schlesien zwischen Napoleonischen Kriegen und Vormärz" über Denunzianten im NS-Regime, in der Schweiz (1930 bis 1948), in Frankreich (1945 bis 1953) und in der SED-Diktatur bis zum "Dilemma kommunistischer Intellektueller im Umgang mit parteilich geforderter Denunziation". Besonders die Aufsätze von Christiane Kohser-Spohn ("Denunziations- und Anzeigepraxis in Frankreich während der 'Épuration' 1945-1953") und Christian Halbrock ("Denunziation, Meldetätigkeit und Informationserhebung im Kapillarsystem der SED-Diktatur") sind hervorzuheben.
Treffend konstatiert Kohser-Spohn, dass sich seit den 1990er-Jahren der Tenor der französischen Geschichtsschreibung über die personelle "Säuberung" von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg geändert habe. "Die auf dem einzig durch einige wenige Kollaborateure mit dem Besatzungssystem der Nationalsozialisten ('eine Handvoll erbärmlicher und schändlicher Personen, die vom Staat ein gerechtes Urteil erhalten haben') beeinträchtigten Mythos eines einheitlichen, unschuldigen, mutigen und heroischen Frankreichs 1945 aufbauende gaullistische Version der Vergangenheit hat nicht nur das Vichy-Regime [...] verschleiert, sondern auch die nationale Debatte über diese entscheidende Periode der Geschichte Frankreichs im Keim erstickt" (67f.). Verstärkt wurde gefordert, dass die "Verräter" und "Kollaborateure" Rechenschaft ablegen müssten. Hierzu zählten auch die Denunzianten, die - wie Koser-Spohn feststellt - nach Auffassung vieler Protagonisten vor allem für das Leiden verantwortlich waren, das Frankreich in der Zeit von 1940 bis 1945 gezeichnet hat. Aber ähnlich wie in Deutschland nach 1945 gestaltete sich die strafrechtliche Ahndung von Denunziationen aus dem Vichy-Regime als schwierig. Zweifellos haben die Amnestie-Gesetze die nationale Identität Frankreichs forciert, gleichzeitig aber auch "den Weg für die Errichtung des dauerhaften Mythos eines 'heroischen Frankreichs' geebnet, das in den 'dunklen Jahren' nicht denunziert hat" (83).
Halbrock beschäftigt sich in seinem Beitrag vor allem mit der Frage, unter welchen Gesichtspunkten die Entscheidung erfolgte, den Behörden etwas anzuzeigen oder eine Information nicht weiterzugeben. In welchem Maße wurden die Spitzel und Denunzianten in der SED-Diktatur von ihrer Umwelt gemieden respektive mit der Verwerflichkeit ihres Handelns konfrontiert? Und schließlich geht es um die Mechanismen der Stigmatisierung und Ausgrenzung im Regime. Damit werden zentrale Aspekte des Phänomens aufgegriffen, etwa das komplexe Geflecht zwischen Verfolgungsinstanzen und Meldungen aus der Bevölkerung, die strukturellen Voraussetzungen für die Denunziationen und wechselseitige Abhängigkeit von Macht und Komplizenschaft und nicht zuletzt die Ambivalenz und "doppelbödige Begleiterscheinung in der Diktatur" (149). Unbestritten können unter bestimmten politischen Konstellationen aus wahrheitsgemäßen Anzeigen moralisch zu missbilligende Denunziationen werden, gerade dann, wenn das Regime ein Interesse an der Strafverfolgung der angezeigten Tat hat und hierdurch die Möglichkeit erhält, abweichende Verhaltensweisen zu ahnden. Ein entscheidender und zugleich herrschaftsstabilisierender Faktor scheint hierbei zu sein, inwieweit es den Machthabern gelingt, das latent in der Gesellschaft vorhandene Potential an Denunziationsbereitschaft und damit auch an moralischer Bedenkenlosigkeit freizusetzen. Bezogen auf die ehemalige DDR stellt Halbrock fest, dass sich in der SED-Diktatur - im Gegensatz zum NS-Regime - der Effekt der wechselseitigen Verstärkung nicht eingestellt habe. Als Grund hierfür vermutet er, dass die Zustimmung zum SED-Regime schnell und in weiten Bevölkerungskreisen an ihre Grenzen gestoßen sei. Darüber hinaus sei vielen Menschen bewusst gewesen, dass der Denunziation etwas Anrüchiges anhaftete. Folglich seien viele vor ihr zurückgeschreckt, auch "dies spricht gegen eine allzu weitreichende Zustimmung in der Bevölkerung zum SED-Staat" (152).
Insgesamt beleuchtet der vorliegende Band wichtige Aspekte des Phänomens Denunziation. Zweifellos ist es problematisch, hier bezogen auf die DDR, sich allein auf die Staatssicherheit und auf die Inoffiziellen Mitarbeiter zu konzentrieren oder diese sogar zu mystifizieren. Vielmehr ist es - stärker als bisher - notwendig, die Verflechtungen zwischen Machthabern und Bevölkerung, die spezifischen Formen der Mitarbeit, überhaupt die Partizipation an der Macht zu hinterfragen.
Anmerkung:
[1] Vgl. André Halimi: La Dèlation sous l'occupation, Paris 1983, 7.
Gisela Diewald-Kerkmann