Jonathan Gorry: Cold War Christians and the Spectre of Nuclear Deterrence, 1945-1959 (= Histories of the Sacred and Secular 1700-2000), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, X + 216 S., ISBN 978-1-137-33423-7, GBP 58,00
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Die Wissenschaft erforscht seit einigen Jahren die Geschichte des Kalten Krieges aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Der Konflikt wird in der Folge nicht länger als eine lediglich ideologische Auseinandersetzung begriffen, die sich anhand von politischen, militärischen und diplomatischen Beziehungen zweier Blöcke beschreiben lässt. Ein kulturwissenschaftlicher Zugriff fragt vielmehr nach der Vielzahl kultureller Einflüsse und nimmt zugleich die Rückwirkungen des Kalten Krieges auf die Gesellschaften in den Blick. In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung von Religionen sowie von religiösen Akteuren, Vorstellungen und Praktiken neu vermessen worden. [1] Das Buch von Jonathan Gorry lässt sich in dieses Forschungsfeld einordnen. Es versteht sich zwar in erster Linie als eine politikwissenschaftliche Studie, die den Einfluss religiöser Akteure und Normen auf die internationalen Beziehungen in den Jahren 1945 bis 1959 untersucht. Die Arbeit bildet mit ihrer quellengesättigten Rekonstruktion der Haltung britischer Protestanten in den Auseinandersetzungen um die atomare Aufrüstung der Zeit und das im Entstehen begriffene System der nukleare Abschreckung jedoch zugleich einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Kalten Krieges.
Hauptanliegen des Buches ist es, "eine neue und unverwechselbare Interpretation der Geschichte des Kalten Krieges [zu liefern], die belegt, wie christliche Akteure eine zentrale Rolle dabei spielten, Raum für die nukleare Abschreckung und die Logik des atomaren Krieges zu schaffen" (Klappentext; Übersetzung DG). Der Autor formuliert dazu eingangs Hypothesen, die er in aktuelle historiografische und politikwissenschaftliche Debatten einordnet. Zunächst greift er die These eines "nuklearen Tabus" auf, der zufolge der tatsächliche Gebrauch von atomaren Waffen nach 1945 undenkbar wurde. [2] Gorry verweist zurecht auf die Historizität dieses Tabus und plädiert dafür, die Jahre von 1945 bis 1959 als Zeit zu verstehen, in der sich diese Vorstellung im öffentlichen Diskurs durchzusetzen begann. Gerade Christen hätten in diesen Diskussionen eine entscheidende Rolle gespielt, so eine weitere Hypothese, und hätten - entgegen der allgemeinen Wahrnehmung - sehr kontroverse Positionen eingenommen. So habe es neben radikalen Pazifisten und Befürwortern eines als unvermeidlich angesehenen Krieges mit Atomwaffen auch eine wachsende Anzahl an sogenannten Nuklearpazifisten gegeben. Für sie habe sich der Charakter von Krieg durch die nukleare Rüstung grundlegend verändert. Letztlich wären die christlichen Debatten die einzigen Foren gewesen, in denen moralische Fragen dieser Art hätten öffentlich verhandelt werden können. Es sei daher auch zu fragen, so Gorry, ob letztlich gängige Vorstellungen von Säkularisierung als eines Niedergangs von Religion nicht zugunsten eines Transformationsverständnisses aufgegeben werden müssten.
Den vielschichtigen Hypothesen- und Fragenkatalog, den der Autor in der Einleitung - leider nicht immer mit der nötigen Stringenz - aufstellt, bemüht er sich in drei Hauptteilen abzuarbeiten. Im ersten Teil "Vision and Order" werden dazu zunächst christliche Konzepte zum Umgang mit Krieg und Frieden vorgestellt. Von ihnen erweist sich bekanntermaßen die Lehre vom Gerechten Krieg im 20. Jahrhundert als am einflussreichsten. Das zu belegen ist Anliegen des zweiten Hauptteils "Faith and Fear". In ihm werden die Diskussionen um atomare Bewaffnung und nukleare Abschreckung in den kirchlichen Foren des "British Council of Churches" (BCC) sowie auszugsweise im transnationalen Ökumenischen Rat der Kirche (ÖRK) nachgezeichnet. Anhand der Debatten des BCC gelingt es Gorry anschaulich zu machen, wie aufgrund von Kriegen und Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Denken vorherrschend war, das einen nuklear geführten Krieg zur Verteidigung der nationalen Sicherheit rechtfertigte. Ein vorsichtiger Umschwung setzte erst mit dem Verlust des westlichen Nuklearmonopols und den Atomtests der 1950er-Jahre ein. In der Folge wurde die Tragfähigkeit der Lehre vom Gerechten Krieg im Atomzeitalter zunehmend in Frage gestellt.
In einem dritten Teil geht Gorry den Veränderungen am Ende des Untersuchungszeitraums noch einmal im Detail nach. Er zeichnet hierzu die verschiedenen Argumentationsstränge in den Diskussionen des BCC über die atomare Bewaffnung zwischen 1955 und 1957 nach und setzt sie zu innerkirchlichen Machtkämpfen und größeren gesellschaftlichen Entwicklung in Beziehung. Einen wichtigen Einschnitt in den Debatten markierte demnach die Durchsetzung der NATO-Strategie der massiven Vergeltung. Sie führte in der zuständigen Kommission des BCC zu heftigen Diskussionen über die Idee eines atomaren Erstschlags durch den Westen, brachte letztlich aber keine Abkehr vom Konzept des Gerechten Krieges. Stattdessen wurde die offizielle Politik von atomarer Aufrüstung und nuklearer Abschreckung durch eine ausgefeiltere Argumentation weiterhin gedeckt. Angesichts dieser Entwicklung scheint es auch wenig verwunderlich, dass selbst das Aufkommen der britischen Anti-Nuklear-Bewegung in den Jahren 1957/58 keine nennenswerten Auswirkungen auf die kirchlichen Positionen besaß. Sie verschärfte allerdings die bereits vorhandenen Gegensätze zwischen Nuklearpazifisten und Unterstützern einer atomaren Bewaffnung.
Die Befunde stützen Gorrys Schlussfolgerung, wonach Christen einen wesentlichen Anteil daran hatten, atomare Aufrüstung und Kriegsführung während der ersten beiden Jahrzehnte des Kalten Krieges im öffentlichen Diskurs zu legitimieren. Die These ist allerdings unter Vorbehalt zu stellen, denn sie fußt lediglich auf Untersuchungen der Diskussionen des "British Council of Churches". Gegenstimmungen etwa anderer kirchlicher Gremien oder gar von kirchlich nicht gebundenen Christen finden, wenn überhaupt, nur am Rande Beachtung. Das gilt erst Recht mit Blick auf die Stellungnahmen anderer christlicher Konfessionen, beispielsweise der katholischen Kirche. Darüber hinaus wird zwar immer wieder auf christliches Friedensengagement verwiesen, untersucht wird dieses, etwa die Proteste der Anti-Nuklear-Bewegung, jedoch nicht. Und schließlich wird zwar in der Untersuchung immer wieder reklamiert, dass die kirchlichen Debatten die einzigen gesellschaftlichen Foren gewesen seien, in denen moralische Fragen der atomaren Rüstung öffentlich diskutiert werden konnten (60/101), den Beweis bleibt der Autor aber schuldig. Ein Blick auf andere soziale Gruppen oder über Großbritannien hinaus wäre hier hilfreich gewesen. Letztlich bildet die Untersuchung von Gorry somit einen fundierten Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Kalten Krieges aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, beantwortet die eingangs gestellten großen Forschungsfragen aber nicht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Dianne Kirby (ed.): Religion and the Cold War, Basingstoke 2013.
[2] Vgl. Nina Tannenwald: The Nuclear Taboo: The US and the Non-Use of Nuclear Weapons Since 1945, Cambridge 2007.
Daniel Gerster