Peter Steinbach: Nach Auschwitz. Die Konfrontation der Deutschen mit der Judenvernichtung, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2015, 108 S., ISBN 978-3-8012-0462-4, EUR 14,95
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Peter Steinbach, langjähriger Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und damit einer der profunden Kenner des NS-Unrechtssystems, reflektiert mit dem vorliegenden Band das Gedenken um den Mord an den europäischen Juden in Deutschland und den Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft damit. Mit dem 1996 seitens Bundespräsident und Bundesregierung eingeführten nationalen Gedenktag (25) - jeweils am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee - besitzt die Bundesrepublik Deutschland nicht nur einen formalen Anlass zu wiederkehrenden Staatsakten im Deutschen Bundestag. Vielmehr bietet dieser Gedenktag für Steinbach den Ausgangspunkt für seine Reflexion darüber. (7) Weil "Geschichte [...] der Resonanzboden vermeintlicher Herausforderungen der Gegenwart" war und ist und er vor dem Hintergrund fortschreitender Stundenreduzierungen des Geschichtsunterrichts in den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland widerspruchslos erfolgt, liefert er ein Essay, das den Holocaust in Bezug zu heutigen Entwicklungen stellt. (8) Damit bietet er eine wichtige Ergänzung der bisher erschienenen, kaum übersehbaren Fachliteratur zum Komplex der nationalsozialistischen Konzentrationslager und dem Unrechtssystem des "Dritten Reiches", wie es nur wenige gibt. [1]
Anfangs weist er darauf hin, dass es eben nicht nur in Deutschland und insbesondere in Israel - dort schon seit 1951 - einen nationalen Gedenktag gibt. Auch die Vereinten Nationen haben 2005 (!) in Anknüpfung an die Erklärung der Menschenrechte den 27. Januar "as an International Day of Commemoration in memory of the victims of the Holocaust" erklärt.
Freilich, und darauf bezieht sich Steinbach immer wieder im Buch, löst die Verkündung eines Gedenktages nichts in den Köpfen der Menschen aus. Geschichte wird (wenn überhaupt) nur dann nutzbringend, wenn sie im Rahmen einer Politischen Bildung auch Wissen vermittelt. Deutschland nimmt dabei scheinbar weltweit eine besondere Rolle ein, weil angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus die Bereitschaft bei Menschenrechtsverletzungen (teilweise) genauer hinzuschauen, besonders ausgeprägt zu sein scheint. (18-19)
Fraglich ist jedoch, welche Funktion dieses nationale Gedenken besitzt? Generationsbedingte Wahrnehmungsunterschiede (20) lassen nicht nur "Auschwitz" in den Hintergrund treten, sondern werden scheinbar durch aktuelle Ereignisse und Verbrechen übertroffen. Sie gelangen beinahe in Echtzeit in die deutschen Wohnzimmer; niemand kann ehrlich sagen, er habe nichts erfahren können.
Steinbach liefert ein Essay, mit dem er die historische Entwicklung vom Scheitern der Weimarer Republik bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem 1962 pointiert nachzeichnet. Er schreibt dabei nichts Neues, aber er rückt die historischen Abläufe in engen Bezug zu jüngeren Entwicklungen. Immer wieder scheint es in Deutschland Ansätze zur Relativierung des Holocaust zu geben, an dem auch offizielle Stellen mittelbar beteiligt sind. Thilo Sarrainzs holzschnittartige Thesen wirken wie die verstärkte und verstörte "Vox Populi"; wiederholt auftretende Diskussionen um die nationale Stiftung für die Opfer der Vertreibung arten zu Nachhutgefechten im Gegeneinanderaufrechnen aus - und über allem wabert indifferent die deutsche Mentalität, sich von aller historischen Last lösen und zu pegidisierten Besser-Bürgern erklären zu wollen.
Gegen diese Richtungen arbeitet Steinbach mit seinem Buch an, indem er anhand historischer Beispiele, einprägsam und gut lesbar, den Bogen vom historischen Ereignis in die Jetztzeit spannt und aktuelle Bezüge bietet. Er umreißt und hinterfragt Begriffe wie "Opfer" und ebenso "Stunde Null". Dazu liefert er knappe Erläuterungen und Angebote zur Interpretation. Gerade weil der Mord an den europäischen Juden etwas weltgeschichtlich Singuläres ist, kreist sein Essay um den Umgang der Deutschen mit diesem Großverbrechen. Dass es nicht nur mit einer willfährigen "Mitläufer- und Tätergesellschaft" (59) zu vollbringen war, und darunter konnten sich viele deutsche wiederfinden, verdeutlicht, dass es eben einer speziellen deutschen "Vergangenheitspolitik (Norbert Frei) bedurfte, um sich davon zu emanzipieren.
Zeitweilige Rückschläge erfuhr diese Art von Verdrängungspolitik durch vereinzelte Prozesse gegen NS-Täter, jüngst in Lüneburg gegen einen greisen SS-Unterscharführer. Die Verurteilung einzelner "Mittäter" - in deren Empfinden oftmals auch nur "Mitläufer" - verursachte indes kein Umdenken in der Gesellschaft. Dabei genügt es immer wieder, die Einzigartigkeit des Handelns von Eichmann und Co. vor Augen zu führen. (63)
Mahnmale in Deutschland, oftmals nach langen Kontroversen durchgesetzt und vielfach als störend im Stadtbild empfunden, können die Defizite im Wissen um die Geschichte niemals aufwiegen. Ebenso wenig, wie Geschichte nie "als Entlastung, als Klagemauer, als Ablenkung" dienen kann, sind sie notwendig für die Auseinandersetzung mit Passivität, Bequemlichkeit, mit Feigheit, mit dem Wunsch, wegzuschauen, um nicht anzustoßen." (94)
Das schlanke Büchlein bietet in gut lesbarer Form viele Ansatzpunkte, den Mord an den europäischen Juden und den Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihm unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Historisch neu ist hingegen nichts. Aber diese Art der Zusammenstellung als prägnante Lektüre bietet erdenklich viele Argumente für die tägliche Auseinandersetzung mit holzschnittartig begründetem Fremdenhass und der alltäglichen, auf schizophren begründeten Ressentiments beruhenden Menschenverachtung. Dann dient es der Politischen Bildung.
Anmerkung:
[1] Martin Broszat: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988.
Heiner Möllers