Hubert Flammarion: Recueil des chartes de l'abbaye de Morimond au XIIe siècle (= ARTEM; 21), Turnhout: Brepols 2014, 558 S., 71 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-55144-9, EUR 95,00
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Bereits Ende des 12. Jahrhunderts stand das in der Diözese Langres liegende Zisterzienserkloster Morimond an der Spitze einer Filiation, zu der nicht weniger als 119 Klöster gehörten. Am Ende des Mittelalters sollte diese Filiation gar 276 Klöster umfassen. Diese Entwicklung unterschied Morimond, das 1154 in die illustre Gruppe der Primarabteien des Ordens vorstoßen konnte, deutlich von anderen Gründungen. Nur Cîteaux und Clairvaux entwickelten eine ähnliche Ausbreitungsdynamik, die beiden anderen Primarabteien La Ferté und Pontigny fristeten hingegen ein eher bescheidenes Dasein. Da in den frühen Jahrzehnten seiner Existenz Morimond zahlreiche deutsche Mitglieder umfasste, ergab sich die geographische Stoßrichtung der Ausbreitung fast von selbst: die meisten deutschen und osteuropäischen Gründungen gingen von Morimond aus (mit dem 1123 gegründeten Kamp an der Spitze).
Im Laufe der Jahrhunderte gingen große Teile der Bibliothek und des Archivs verloren. Dies lag nicht zuletzt an der ungünstigen Lage der Abtei im Grenzbereich zwischen Frankreich und dem Reich, wo im Falle kriegerischer Handlungen des Öfteren der Durchzug von Truppen verkraftet werden musste: eine für Pflege und Erhalt von Archiven nicht unbedingt förderliche Situation. Als 1791 die letzten Mönche im Zuge der Französischen Revolution das Kloster verlassen mussten, bedeutete dies die endgültige Zerstreuung, in vielen Fällen gar die Vernichtung der Archivalien. Der Verkauf der als Nationalgut deklarierten Bibliotheks- und Archivbestände vollzog sich wie auch andernorts "dans une atmosphère aussi peu claire que possible" (40) - immerhin 1330 Bände der Bibliothek wanderten in die Stadtbibliothek von Chaumont. Das Archiv, das zunächst nach Bourbonne, dann nach Chaumont verlagert wurde, erlitt empfindliche Verluste, was insbesondere im direkten Vergleich mit dem Inventar von 1745 deutlich wird. Zwei Umstände begünstigen insbesondere das Verschwinden von Morimonder Archivmaterial: zum einen die (geographische und inhaltliche) Nähe zur Lebenswirklichkeit der mit dem Transfer Beschäftigten, die das, was sie (vermeintlich) betraf, gerne an sich nahmen, zum anderen die Platzierung des Materials im Moment des Transports: das, was obenauf lag, verschwand. Flammarion weist dies anhand aussagekräftiger Beispiele überzeugend nach.
Derzeit liegen für 85 der 693 vor 1300 gegründeten Zisterzienserklöster Quelleneditionen vor - von den zehn Klöstern der Diözese Langres (immerhin die Wiege der zisterziensischen Reformbewegung) verfügen bisher lediglich Clairvaux und Mores über eigene Urkundeneditionen. Für Morimond war die Quellenlage alles andere als befriedigend, konnte bislang auf viele Urkunden doch nur mittels unzulänglicher, an entlegenem Ort erschienener Editionen zurückgegriffen werden.
In seiner umfangreichen Einleitung beschreibt der durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Diözese Langres bestens ausgewiesene Editor diese Ausgangssituation und richtet den Blick auf das, was vom Morimonder Archiv unter der Nummer 8 der Serie H in den Archives départementales de la Haute-Marne erhalten geblieben ist.
Im Gegensatz zu vielen anderen Abteien des Ordens scheint Morimond im 12. Jahrhundert kein Chartular angelegt zu haben - zumindest ist ein solches nicht überliefert. Und Flammarion weist der isoliert stehenden Aussage eines Gelehrten des 17. Jahrhunderts, der von der Existenz eines solchen Chartulars ausgeht, wenig Beweiskraft zu. Das sogenannte "Chartular von Bourbonne" hingegen, ein kleines, in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenes Register bestehend aus 251 Seiten, auf denen, abgekürzt, partiell oder selten auch in extenso 771 Urkunden aus Morimond überliefert sind, wird von Flammarion mit guten Gründen als "catalogue des chartes de Morimond" (34) charakterisiert, enthält es doch eher Analysen von Urkunden, in die originale Textfragmente eingeflossen sind. Einschlägig für vorliegende Edition war der Band allemal.
197 Urkunden für Morimond sind für das 12. Jahrhundert überliefert (zum Vergleich: für Clairvaux liegen in diesem Zeitraum immerhin 438 Urkunden vor). 61% haben Bischöfe - zumeist diejenigen von Langres oder Toul -, 6,4 % Päpste als Aussteller. Der Rest verteilt sich auf Angehörige religiöser Institutionen wie Äbte, Äbtissinnen, Prioren, Dekane oder Erzdiakone und Angehörige weltlicher Institutionen wie Herzöge, Grafen, oder mächtige Laien. Insgesamt sind 140 Originale (71,1%) erhalten.
Morimond besaß 28 Pancarten, 21 davon sind im Original, die weiteren in vollständigen bzw. partiellen Abschriften erhalten. Aus dem Abteiarchiv stammen auch 18 Chirographen des 12. Jahrhunderts, deren materielles und inhaltliches Erscheinungsbild in vorliegender Edition anhand aussagekräftiger Abbildungen erläutert wird. Im Zentrum dieser Chirographen stehen teils komplizierte Schuld- und Transaktionsprozesse, die einen der Vertragspartner durch Sach- oder Geldleistungen banden.
Ein etwas genauerer Blick auf die 197 edierten Urkunden selbst zeigt, welch zentrale Rolle den Bischöfen von Langres bei der Herausbildung des zum Kloster gehörigen Besitzkomplexes zukam, waren sie es doch, die Besitzübertagungen bzw. -schenkungen mehrfach bestätigten. Auch das Papsttum zeigte sich in dieser Hinsicht ausgesprochen entgegenkommend (vgl. etwa nn. 39, 94, 147 mit einer Fülle von Kardinalssubskriptionen). Daneben beurkundeten sie häufiger das Ende von Besitzstreitigkeiten zwischen Morimond und einigen Laien, die sich über Jahrzehnte hinziehen konnten (s. z. B. n. 97, eine 1178 in Morimond super altare ausgestellte Urkunde). Nicht immer waren nämlich die Nachkommen mit der von ihren Vorfahren gezeigten Freigiebigkeit zugunsten des Klosters einverstanden (z. B. nn. 100, 135, 136). Dass die Geschichte von Morimond im 12. Jahrhundert nicht nur von Erfolg gekrönt war, sondern man mitunter harschen Anfeindungen, ja Angriffen auf Leib und Leben begegnen musste, davon zeugt eine leider stark beschädigte und somit nur in Teilen entzifferbare Urkunde Innocenz' III. vom April 1199, in der die gravis questio von dampna und iniuria abgehandelt wird, deren Zielscheibe Morimond war (n. 181). Wirtschaftlich jedenfalls scheint man sich zu diesem Zeitpunkt recht kommod eingerichtet zu haben. Vom Willen, bestehenden Besitz zu arrondieren, zeugen einige Urkunden, in denen Morimond als Gegner anderer (Zisterzienser-)Abteien erscheint (nn. 46, 51, 99, 152). Innocenz III. gestand der Abtei im April 1198 gar einen ychonomus zu, dessen Aufgabe darin bestehen sollte, Güter und Rechte der Abtei zu schützen (n. 179). Innerhalb des Ordens kommt Morimond eine wichtige, wenn auch nicht zentrale Rolle zu: Vom Generalkapitel wird der Abt von Morimond häufiger mit der Klärung von Streitigkeiten innerhalb seiner eigenen Filiation betraut - die Urkunden verdeutlichen, wie gefährlich die in diesem Zusammenhang unternommenen (Visitations-)Reisen sein konnten. Gelegentlich erhält man auch einen flüchtigen Einblick in das Geschehen auf den Generalkapiteln. Ganz offensichtlich wurde nicht nur das diskutiert und entschieden, was von der Ordensleitung bzw. den Diffinitoren vorbereitet worden war. Hitzige Debatten fanden statt, in denen sich der Abt von Morimond zu scharfen und unbedachten - und deshalb später sanktionierten - Äußerungen hinreißen ließ (vgl. nn. 251, 257).
Sechs Anhänge erschließen das Material zusätzlich: 1. Morimond dans les status de l'ordre de Cîteaux (337-356): hierbei handelt es sich um keine originäre Editions- bzw. Forschungsleistung, stammt das Gros der entsprechenden Belege doch aus Chrysogonus Waddels vorzüglicher Edition der Statuten der Generalkapitel des 12. Jahrhunderts (Cîteaux 2002). Es ist jedoch ohne Zweifel für zukünftige Forschungen von Vorteil, die 64 Belege bequem zur Hand zu haben; 2. Actes des abbés de Morimond au XIIe siècle (357-369): hier finden sich neun Urkunden; 3. Liste et notices des abbés de Morimond au XIIe siècle (371-396): Flammarion durchbricht mit dieser Liste und ihren prosopographischen Informationen eine Art Abschreibekartell, durch das falsche Informationen vom 17. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart hinein verbreitet wurden. 13 Äbte standen im 12. Jahrhundert an der Spitze von Morimond, und auch für Flammarion ist es nicht immer ganz einfach, ein über jeden Zweifel erhabenes biographisches Gerüst zu etablieren, wobei freilich stets gilt: dubia werden als solche klar benannt; 4. Les sceaux des abbés de Morimond au XIIe siècle (397-403): elf Besiegelungen durch die Äbte von Morimond sind im erhaltenen Material nachweisbar; fünf Siegel konkret erhalten; 5. Les sceaux dans les archives de Morimond au XIIe siècle (405-411): von den 225 Siegeln, die auf den heute erhaltenen Urkunden aufgebracht worden sein müssen, ist nur ein geringer Prozentsatz erhalten, nämlich 4%; 6. L'espace morimondien au XIIe siècle (413-424): hier finden sich Listen und Karten, die die langsame Entstehung der Filiation von Morimond in Raum und Zeit eindrucksvoll demonstrieren und den Blick auch auf die Verteilung von Grangien und anderen Besitztümern richten. Die ebenso sorgfältig wie die Edition gearbeiteten Indices - kleinere Fehler wie das in n. 247, Zeile 2 auftauchende recepit non poterit (recte: recepi non poterit) fallen kaum ins Gewicht - machen vorliegenden Band zu einem unverzichtbaren Arbeitsinstrument für alle, die sich mit der Frühgeschichte von Morimond im Besonderen, mit der Entstehungsgeschichte des Zisterzienserordens im Allgemeinen beschäftigen (427-551; Index der in den Urkunden verwendeten (lateinischen) Begriffe; Index der Ortsnamen; Index der Personennamen; Index der Urkundenaussteller).
Auf der Grundlage vorliegender Edition sind nun Antworten auf zwei zentrale Fragen innerhalb der frühen Geschichte von Morimond möglich: das Kloster wurde deutlich nach Clairvaux (1115) gegründet und stieß erst um 1154 in den Kreis der Primarabteien vor.
Dem Wunsch des Editors schließt man sich gerne an: "Les [chartes] voilà exhumées, le travail des historiens peut continuer."
Ralf Lützelschwab