Frank Bösch / Rüdiger Graf (eds.): The Energy Crisis of the 1970s. Anticipations and Reactions in the Industrialized World (= Historical Social Research; Vol. 39 (2014). 4), Mannheim: GESIS 2014, 364 S., ISSN 0172-6404, EUR 12,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Matthias Lieb: Bürgerschaftliches Engagement für den Umweltschutz in der Stadt seit 1970. Mainz - Wiesbaden - Freiburg im Breisgau, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021
Frank Uekötter: Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022
Hansjörg Küster: Die Elbe. Landschaft und Geschichte, München: C.H.Beck 2007
Frank Bösch / Peter Hoeres (Hgg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen: Wallstein 2013
Rüdiger Graf: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepoltiik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2014
Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler (Hgg.): Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018
Der hier zu besprechende Band - der auch einen Beitrag zu Migrationsbewegungen zwischen afrikanischen Städten am Beispiel von Johannesburg sowie eine Inhaltsanalyse von päpstlichen Enzykliken beinhaltet - versammelt die Beiträge einer von den Herausgebern initiierten Tagung zur Energiekrise der 1970er-Jahre. Ausgangspunkt ist die Vorgeschichte der ersten Ölpreiskreise im Jahr 1973 in den Industrieländern. 1973/74 stieg der Preis für ein Barrel Rohöl von drei auf zwölf US-Dollar. Ausgelöst wurde der Anstieg im Oktober 1973 anlässlich des Jom-Kippur-Krieges durch die bewusste Drosselung der Fördermenge durch die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC). Die westlichen Länder sollten unter Druck gesetzt werden, Israel nicht zu unterstützen. Die Herausgeber stellen die Frage, ob diese erste Ölpreiskrise wirklich der Wendepunkt war, der die Phase des wirtschaftlichen Booms von der Zeit wirtschaftlicher Krisen trennt. Dazu stellen sie die erste Ölpreiskrise in einen breiteren Kontext. Oftmals wird vergessen, dass es 1979/80 einen weiteren Rohölpreisanstieg gab: Durch Förderungsausfälle und die Verunsicherung nach der Islamischen Revolution im Iran und dem Angriff des Iraks auf den Iran (Erster Golfkrieg) stieg der Preis auf bis zu 38 US-Dollar für ein Barrel an.
Die Preisexplosionen führten zu einer weltweiten Wirtschaftsrezession. Beide Krisen wurden durch die Verknappung des Ölangebotes herbeigeführt: Sie entstanden nicht, weil die globalen Ölreserven erschöpft gewesen wären, sondern hatten politische oder ökonomische Hintergründe, denen sich für die USA der Beitrag von Robert D. Lifset widmet (22-42). Er weist nach, dass der Ölpreisanstieg nur ein Faktor war, der zu der amerikanischen Energiekrise führte. Das Embargo der OPEC traf auf zwei inneramerikanische Probleme: die Erdgas- und die Elektrizitätskrise. Damit zeigt Lifsets Beitrag, wie wichtig es ist, neben dem Erdöl auch die anderen Energieträger in den Blick zu nehmen: in erster Linie Kohle, Erdgas und Kernenergie. Lifsets Ergebnis, dass die Ölpreiskrise nicht der Wendepunkt war, als der er später dargestellt wurde, ist auch der Befund mehrerer anderer Beiträge. Vielmehr wurden schon vorhandene Trends durch die Ölpreisentwicklung verstärkt. In Frankreich gilt dies für den Ausbau der Kernenergienutzung. Ähnlich lässt sich das auch für die Nuklearprogramme in Osteuropa feststellen, die bereits vor dem Preisanstieg begonnen worden waren, aber nach dem ersten Ölpreisanstieg forciert wurden.
Frank Bösch stellt in seinem Beitrag (165-185) fest, wie die Ölpreisanstiege zu verstärkter Kooperation zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland bei der Energieversorgung führten, insbesondere bei den Erdgaspipelineprojekten und sogar auf dem sensiblen Gebiet der Kerntechnik. Im Gegensatz dazu versuchte die DDR (231-250) mit der Steigerung der Braunkohleförderung den Energiehunger zu stillen, was kurzfristig durchaus erfolgreich war. Langfristig leistete die Braunkohlestrategie der DDR jedoch einen Beitrag zu ihrem wirtschaftlichen Kollaps. Den Strategien, welche die Chemieindustrie als einer der größten westdeutschen Energieverbraucher entwickelte, um mit den steigenden Energiekosten fertig zu werden, widmet sich der Beitrag von Christian Marx (251-271). Einerseits versuchte man unabhängig von den großen Energieversorgungsunternehmen, eigene Kernkraftwerksprojekte voranzubringen (z.B. BASF im dichtbesiedelten Rhein-Main-Gebiet in Ludwigshafen), andererseits wurde die Kohleverflüssigungstechnologie, die bereits im "Dritten Reich" entwickelt worden war, wiederentdeckt. Unter dem Motto "Kohle und Kernenergie" förderte die sozial-liberale Bundesregierung diese technologische Entwicklung mit Rückenwind der Gewerkschaften. Zu ergänzen an diesem Beitrag ist das Engagement der westdeutschen Chemieindustrie in der Wiederaufarbeitungstechnologie. [1]
Weitere Beiträge analysieren, wie die britische, dänische und italienische Energiepolitik auf die Ölpreiskrisen reagierten und wie sich die multilaterale energiepolitische Zusammenarbeit im Zeichen des Kalten Krieges entwickelte. Die allesamt qualitätsvollen Aufsätze, die sich durch eine gute Lesbarkeit, eine stringente Argumentation und eine normierte Länge auszeichnen, stellen einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Energiepolitik der 1970er-Jahre dar und sind jedem Wirtschaftshistoriker zum Verständnis der 1970er- und 1980er-Jahre anempfohlen.
Anmerkung:
[1] Joachim Radkau: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek bei Hamburg 1983, 289-299.
Anselm Tiggemann