Rezension über:

Stéphane Benoist / Christine Hoët-van Cauwenberghe (éds.): La vie des autres. Histoire, prosopographie, biographie dans l'Empire romain (= Histoire et civilisations), Villeneuve d'Ascq: Presses Universitaires du Septentrion 2013, 384 S., ISBN 978-2-7574-0443-0, EUR 32,00
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Rezension von:
Matthäus Heil
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Matthäus Heil: Rezension von: Stéphane Benoist / Christine Hoët-van Cauwenberghe (éds.): La vie des autres. Histoire, prosopographie, biographie dans l'Empire romain, Villeneuve d'Ascq: Presses Universitaires du Septentrion 2013, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/23643.html


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Stéphane Benoist / Christine Hoët-van Cauwenberghe (éds.): La vie des autres

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Griffige, originelle Buchtitel haben mitunter den Nachteil, dass sie wenig vom tatsächlichen Inhalt zu erkennen geben. Schlicht und spröde hätte der vorliegende Band heißen können: "Hommages à Janine Desmulliez". [1] Denn in der Sache hat man es mit einer Festschrift zu tun. Genauer gesagt, handelt es sich um die Akten eines Festcolloquiums, das am 18. und 19. November 2010 anlässlich der Emeritierung von Janine Desmulliez stattgefunden hat.

Der Inhalt des Bandes erschließt sich am ehesten von der Person der Geehrten her: Janine Desmulliez stammt aus Lys-lez-Lannoy an der belgisch-französischen Grenze, wo sie auch politisch tätig ist, wie es dort bereits ihr Vater war. Ihr wissenschaftliches Werk steht fast zur Gänze im Zusammenhang mit der "Prosopographie chrétienne du Bas-Empire" (PCBE) - der seit 1951 nach und nach erarbeiteten Prosopographie der spätantiken Kleriker und sonstigen bedeutenden Christen, die gewaltige Materialmengen zu bewältigen hat. Janine Desmulliez trat mit Studien zu Paulinus von Nola hervor und gehörte vor allem zu den Bearbeitern des 1999/2000 erscheinen Italien-Bandes der PCBE. [2] Seit 2001 wirkte sie an der Universität Lille 3. Auch hier blieb sie ihrem angestammten Arbeitsfeld treu; sie hat an der Erstellung des - mittlerweile erschienenen - Gallien-Bandes der PCBE mitgearbeitet [3] und sie pflegte enge Kontakte mit einer Arbeitsgruppe in Barcelona, die den Spanien-Band der PCBE vorbereitet. Aus dem Umkreis dieser Projekte kommt denn auch die Mehrzahl der Autoren, die einen Beitrag beigesteuert haben (es sind insgesamt zwölf in Französisch und fünf in Spanisch).

Der Colloquiumsband beginnt mit einer größeren Einleitung, die von Desmulliez' Kollegen aus Lille bestritten wird: Zunächst trägt Stéphane Benoist einige allgemeine Überlegungen zur Geschichte und Bedeutung der Prosopographie vor (13-24), wobei er betont, dass diese eher ein Werkzeug als eine autonome Methode sei. Sodann würdigt Christine Hoët-van Cauwenberghe das Lebenswerk von Janine Desmulliez (25-35). Erst danach folgen die eigentlichen Fachbeiträge - insgesamt 15 Artikel. Das Colloquium war keiner speziellen Frage und keinem klar umschriebenen Problem gewidmet; vielmehr scheinen die Freunde, Schüler und Kollegen der Jubilarin je ein Werkstück aus ihrer gegenwärtigen Arbeit mitgebracht zu haben. So ist eine typische Festschrift entstanden: ein bunter Strauß von Studien unterschiedlichen Zuschnitts, Umfangs und methodischer Ausrichtung, die den weiten Zeitraum vom frühen Prinzipat bis zur Westgotenzeit abdecken (fünf betreffen die Kaiserzeit, zehn die Spätantike). Einige Beiträge scheinen nur für den Tag geschrieben zu sein; andere sind eher als Werkstattberichte einzuordnen, und Josep Vilella bietet die Vorab-Fassung eines künftigen PCBE-Artikels zum Bischof Hosius (193-218). Die Abfolge scheint - wie manche Werke der Spätantike - nach dem Prinzip der "variatio" (Abwechslung) organisiert worden zu sein; ein augenfälliges Ordnungsmuster gibt es jedenfalls nicht. Die Beiträge zu prosopographischen Fragen im engeren Sinn sind in der Minderheit; meist geht es eher um Vorarbeiten hierzu. Freilich ist man für die Spätantike überwiegend auf literarische Quellen verschiedener Art angewiesen, die nach einer je spezifischen Analyse verlangen, und die christliche Prosopographie berührt sich notwendigerweise auch mit der Patristik.

Es können hier nicht alle Beiträge einzeln besprochen werden; so sei nur auf einige wenige kurz verwiesen, die vielleicht allgemeineres Interesse verdienen: Stéphane Benoist (37-61) beschäftigt sich mit der Frage, was eigentlich ein Usurpator ist - womit er das Fundamentalproblem der kaiserlichen Legitimität berührt. Allerdings zieht er sich dann auf den antiken Diskurs über die Usurpatoren und die Schemata ihrer Darstellung zurück, statt die Frage anzupacken, was einen legitimen Herrscher wirklich von einem Usurpator unterscheidet. Robert Delmaire (129-150) liefert eine verwaltungsgeschichtliche Studie über die Modalitäten der Ernennung von Provinzstatthaltern in der Spätantike, die teilweise prosopographisch unterfüttert ist. Françoise Prévot (231-248) beschäftigt sich mit der Briefsammlung des Sidonius Apollinaris und zeigt auf, wie bewusst der Autor durch Auswahl und Anordnung der Briefe ein Bild von sich selbst inszeniert. Pere Maymo i Capdevila (259-284) befasst sich mit den byzantinischen Militärs, die in den Briefen Gregors des Großen erwähnt werden; er belässt es allerdings bei der Erstellung einer Liste dieser wenigen, längst in der "Prosopography of the Later Roman Empire" erfassten Personen, statt den Umgang Gregors mit ihnen zu studieren. Carlos Buencasa Pérez (285-306) befasst sich mit dem Diskurs über den Reichtum in den spätantiken Mönchsviten und zeigt auf, wie systematisch hier das Thema des Geldes und der Finanzen ausgeblendet wurde. Raul Villegas Marín (307-328) steuert schließlich einen Essay zu einigen gallischen autobiographischen Mönchsviten des frühen 5. Jahrhunderts bei und suggeriert, dass die darin aufscheinende Diversität persönlicher Lebenswege einen möglichen Hintergrund für die sogenannten semipelagianische Kontroverse mit Augustinus bilde - was möglich, aber nicht beweisbar ist.

Ganz am Ende versucht Ségolène Demougin (329-333) in einem Schlusswort auf charmante Art, unter dem Stichwort der 'longue durée' eine Art Zusammenhang zwischen den Beiträgen des Festcolloquiums zu stiften. Sie beginnt mit der provokanten Frage, ob Historiker denn Voyeure seien - die am Ende natürlich verneint wird. Sie schließt mit der Feststellung, dass man durch den Blick auf das Leben der Anderen viel über sich selbst lerne.

Dennoch wird kaum jemand den Band aus inhaltlichen Gründen vom Anfang bis zum Ende durcharbeiten. Denn die einzelnen Artikel haben ihre Bedeutung in ihrem je eigenen, teils sehr speziellen Diskussionszusammenhang. Doch haben die Herausgeber viel getan, damit derjenige fündig wird, der etwas Bestimmtes sucht. Jedem Beitrag ist ein Resümee (in Französisch und einer anderen Sprache) vorangestellt. Und vor allem wurde der Band mit umfangreichen Indices ausgestattet (335-374). Man wird sich in dieser Festschrift also rasch orientieren können. [4]


Anmerkungen:

[1] Es wird an keiner Stelle ein Bezug zum Film "Das Leben der Anderen" (Deutschland 2006) hergestellt. Die Wahl des Titels war offenkundig nicht davon inspiriert.

[2] Prosopographie chrétienne du Bas-Empire 2. Italie (313 - 604), sous la direction de Ch. Pietri et L. Pietri par J. Desmulliez, Ch. Fraisse-Coué, E. Paoli-Lafaye, Ch. Pietri, L. Pietri, C. Sotinel, 2 Bde., Rom/Paris 1999-2000.

[3] Prosopographie chrétienne du Bas-Empire 4. Prosopographie de la Gaule chrétienne (314 - 614), sous la direction de L. Pietri et M. Heijmans avec les contributions de Ph. Bernard, C. Buenacasa-Perez, J. Desmulliez, V. Essoussi, Ch. Fraisse-Coué, B. Merdrignac, F. Prévot, 2 Bde., Paris 2013.

[4] Allerdings ist im Inhaltsverzeichnis die Reihenfolge zweier Beiträge vertauscht: der von A. Álvarez Melero steht in Wirklichkeit auf 93-112, der von M. L. Bonsangue auf 63-92.

Matthäus Heil