Myles Burnyeat / Michael Frede: The Pseudo-Platonic Seventh Letter. Edited by Dominic Scott, Oxford: Oxford University Press 2015, XVI + 224 S., ISBN 978-0-19-873365-2, GBP 30,00
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Weil Platons literarisches Werk aus Dialogen besteht, weil der Autor darin niemals in eigener Person spricht und auch sonst, zumindest explizit, nichts über sich verrät, nimmt der Siebte Brief in der Platon-Forschung eine Schlüsselposition ein. Denn dieser Brief enthält wichtige biographische Informationen über Platon sowie über seine politischen und philosophischen Ansichten, ja, er lässt sogar Einblicke in seinen Charakter zu. Seit dem 18. Jahrhundert wird daher kontrovers diskutiert, ob der Brief echt ist. Neue Gesichtspunkte, die zur Entscheidung der Frage beitragen könnten, sind schon lange nicht mehr vorgebracht worden. Heutzutage gehen die meisten Gelehrten von der Echtheit des Briefes aus - meist unter Berufung auf einen angeblichen Forschungskonsens, ohne die Frage selbst genauer untersucht zu haben. Selbst wenn der Brief - so das hinzugehörige Hilfsargument - nicht direkt aus Platons Feder geflossen sei, stamme er doch zumindest von einem gut informierten Gefolgsmann aus der Akademie und müsse als glaubwürdige Quelle zu Platons Leben und Denken anerkannt werden.
Gegen diesen Forschungsstand richtet sich das vorliegende Buch, das auf ein Seminar der beiden Autoren in Oxford 2001 zurückgeht. Da die Beiträge von Michael Frede, der 2007 starb, nur teilweise in kontinuierlicher Prosa vorlagen, wurden sie vom Herausgeber redaktionell bearbeitet, mit einem Editor's Guide und Endnoten versehen. Sie beschäftigen sich mit dem epistolographischen und dem historischen Kontext des Siebten Briefes und bilden den ersten Teil des Buches, während Myles Burnyeat im zweiten Teil den erkenntnistheoretischen Exkurs und die literarische Methode einer eingehenden Analyse unterzieht. Wie schon die Umstände der Entstehung nahelegen, bietet das Buch keine systematische und erschöpfende Behandlung seines Gegenstandes; auch findet keine Auseinandersetzung mit Forschungsliteratur und anderen Forschungspositionen statt. [1] Wirklich neue Argumente gegen die Echtheit des Siebten Briefes bringen die Autoren denn auch nicht vor - wohl aber gelehrte und mehr oder weniger scharfsinnige Überlegungen, die alte Argumente neu zuspitzen und dazu einladen, die Frage neu zu durchdenken.
Michael Frede beginnt seine Erörterungen mit der Überlieferungsgeschichte des Corpus Platonicum im Allgemeinen und der darin enthaltenen Briefsammlung im Besonderen. Unbestritten ist, dass der alexandrinische Gelehrte Thrasyllos, der das Werk Platons im 1. Jahrhundert in neun Tetralogien ordnete, unechte Dialoge in seine Ausgabe übernahm und dass zumindest einige (wenn nicht alle) der 13 in diesem Zusammenhang überlieferten Briefe Fälschungen sind. Mit der frühesten Erwähnung des fünften, siebten und neunten Briefes bei Cicero können wir die Briefsammlung des Thrasyllos bis ins 1. vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen. Schon dem Biographen Sartyros am Ende des 3. und dem Philologen Aristophanes am Anfang des 2. vorchristlichen Jahrhunderts lagen Platonbriefe vor, wenn auch nach Frede vermutlich nicht diejenigen, die Thrasyllos in seine Sammlung aufnahm (vgl. 18 und 90 f.). Aufschlussreich ist überdies der Vergleich mit anderen Briefsammlungen, die in der Antike anderen Philosophen (wie Heraklit, Demokrit, Sokrates und Sokratikern, Archytas, Chion, Speusippos, Aristoteles, Krates, Diogenes) zugeschrieben wurden. Durch die Ausleuchtung des literaturhistorischen Kontextes und die Untersuchung ausgewählter Beispiele legt Frede nahe, dass alle diese Briefe Fälschungen sind, die ihre Existenz großenteils der Polemik hellenistischer Philosophenschulen verdanken. Dadurch hat Frede die Unechtheit des Siebten Briefes zwar nicht bewiesen, wohl aber einen pseudologischen Rahmen beschrieben, in den man auch den Siebten Brief einordnen könnte. [2] Die frühesten echten Philosophenbriefe stammen nach Frede von Epikur und seinen Schülern. Sie erscheinen seiner Meinung nach glaubwürdig, weil sie (anders als die Platonbriefe) bestimmte Funktionen im Rahmen der epikureischen Philosophie erfüllen.
Außerdem sprechen nach Frede innere Gründe für die Unechtheit des Siebten Briefes. Dass Platon zur Abfassungszeit des Briefes an den Gesetzen gearbeitet habe und daher die Philosophenherrschaft nicht als politisches Reformkonzept vertreten haben könne (43), ist allerdings kein gutes Argument, denn der Briefautor führt die Philosophenherrschaft an, um die zurückliegenden Sizilienreisen Platons zu erklären, während er den Adressaten, den Verwandten und Freunden Dions, eine Gesetzesherrschaft empfiehlt. Außerdem schrieb Platon in den Nomoi (IV 709d-711d) ausdrücklich - eine Passage, die Frede und Burnyeat erstaunlicherweise nicht berücksichtigt haben -, dass die beste Staatsordnung am besten und leichtesten durch die Zusammenarbeit eines Gesetzgeber-Philosophen mit einem jungen, lernbegierigen, einsichtsvollen und besonnenen Tyrannen verwirklicht werden könnte. Wie aber hätte Platon annehmen können, dass die Mitglieder der syrakusanischen Tyrannenfamilie Dion, Dionysios II. und Hipparinos Philosophen im Sinne des Philosophenkönigssatzes oder Gesetzgeber im Sinne der kretischen Stadt sein oder werden könnten? Selbst Dion, der Platon zweimal zur Reise an den Tyrannenhof nach Syrakus überredete und an dessen gutem Willen der Briefautor keinen Zweifel lässt, kann schwerlich als Philosoph im engeren Sinne angesprochen werden, wie Frede treffend feststellt: "(...) no source ever attributes any philosophical view or position to Dion" (63). Und wie hätte Platon annehmen können, dass ausgerechnet Syrakus ein geeignetes Terrain für seine politischen Reformvorstellungen sein könnte? Dass es auf diese Fragen keine Antworten gibt, die sich mit Platons Überlegungen in der Politeia und den Nomoi vereinbaren lassen, hat Frede (wie schon seine briefkritischen Vorgänger) überzeugend gezeigt. Der Briefautor instrumentalisiert platonische Gedankenfiguren zu apologetischen Zwecken. Er dekontextualisiert die Konzepte der Philosophenherrschaft und der Nomokratie vollständig und lässt sie in ihrer Voraussetzungslosigkeit wie einfache politische Parolen erscheinen. Doch folgt daraus schon, wie Frede meint, dass Platon diese Sätze nicht geschrieben haben kann? Ist es nicht vielmehr naiv zu glauben, Platon habe nicht seinen geistigen Rang unterschreiten und eigene Formeln benutzen können, um vor der interessierten griechischen Öffentlichkeit seine wahrlich erklärungsbedürftigen Aufenthalte am Tyrannenhof in Syrakus und die gut bezeugte Beteiligung mehrerer Akademiemitglieder an den blutigen Machtkämpfen innerhalb der syrakusanischen Tyrannenfamilie zu rechtfertigen? Natürlich möchte jeder Bewunderer der platonischen Dialoge den Meister von diesem rhetorisch aufgeblasenen Machwerk, das platonische Ideen auf durchsichtige Weise apologetisch banalisiert, freisprechen. Selbst in diesem Fall führt allerdings kein Weg daran vorbei, den Verfasser des Briefes, der sich als historisch und geographisch gut informierter Zeitgenosse zeigt, gegen Frede (44) im näheren Umfeld Platons und der Akademie zu suchen.
Im zweiten Teil des Buches untersucht Myles Burnyeat zunächst "the pseudo-philosophical digression in Epistle VII" (121-133). Wie diese Überschrift bereits andeutet, hält Burnyeat den Briefautor für philosophisch inkompetent. Insbesondere der erkenntnistheoretische Exkurs (342a - 344d) sei Platons nicht würdig und bleibe weit unter dem Niveau der platonischen Dialoge. Auch wenn man, wie der Rezensent, diese Bewertung teilt, erscheint Platons Autorschaft nicht ausgeschlossen. Dass sich der Brief an eine andere Art von Publikum richten könnte als die Dialoge und dass auch für Platon der apologetische Zweck die rhetorischen Mittel heiligen könnte, hat Burnyeat ebenso wenig wie Frede erwogen. Im Unterschied zu Frede und den meisten anderen Forschern sieht Burnyeat in der Rechtfertigung freilich nur einen Nebenaspekt des Textes. Vielmehr sei der Siebte Brief "a work of imaginative literature, a prose tragedy" (136). Die literarische Analyse, durch die Burnyeat im letzten, längsten und vielleicht interessantesten Kapitel des Buches diese These zu belegen versucht (135-195), gibt wenig für die Frage der Authentizität her. Burnyeats Kommentar führt dem Leser einen literarisch durchaus versierten Briefautor vor, der es trotz seiner philosophischen Inkompetenz versteht, eine kohärente Erzählung zu schreiben, in der die Handlungen der Hauptakteure auf plausible Weise motiviert werden.
Das Buch enthält eine Reihe anregender und allenfalls locker miteinander verbundener Essays, die die Leitfrage umkreisen, ohne sie (anders als die Verfasser glauben) definitiv beantworten zu können. Abgesehen von der Tatsache, dass Frede und Burnyeat den Briefautor möglichst weit von Platon absetzen wollen, tragen sie nur wenig dazu bei, den räumlichen, zeitlichen und intellektuellen Kontext des angeblichen Pseudepistolographen näher zu bestimmen. Ihre Argumente ziehen, wie die einer Reihe von kritischen Gelehrten vor ihnen, die Echtheit des Siebten Briefes zwar überzeugend in Zweifel, ohne jedoch die Unechtheit beweisen zu können.
Anmerkungen:
[1] Die Endnoten, die Carol Atack und Dominic Scott dem Beitrag von Michael Frede angefügt haben, sind hilfreich, können dieses Defizit aber nicht auffangen. In der Bibliographie fehlen folgende für die Fragestellung wichtige deutschsprachige Titel: Franz Dornseiff: Echtheitsfragen antik-griechischer Literatur, Berlin 1939; Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum, Frankfurt a.M.31949; Kai Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994; Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie, Ueberweg: Antike 2/2), Basel 2007.
[2] Fredes Ergebnisse wären noch überzeugender gewesen, wenn er nicht nur die Philosophenbriefe behandelt, sondern auch die Briefe von Platons Zeitgenossen Isokrates und Demosthenes näher berücksichtigt hätte, die ebenfalls überwiegend, aber von manchen Gelehrten nicht ausnahmslos für Fälschungen gehalten werden.
Kai Trampedach