Menno Preuschaft: Religion, Nation, Identität. Eine Untersuchung des zeitgenössischen saudischen Diskurses zum Umgang mit religiöser Pluralität (= Kultur, Recht und Politik in Muslimischen Gesellschaften; Bd. 31), Würzburg: Ergon 2014, 427 S., ISBN 978-3-95650-071-8, EUR 58,00
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Fritz Schulze / Holger Warnk (Hgg.): Religion und Identität. Muslime und Nicht-Muslime in Südostasien, Wiesbaden: Harrassowitz 2008
Nimrod Luz: The Mamluk City in the Middle East. History, Culture, and the Urban Landscape, Cambridge: Cambridge University Press 2014
Sami G. Massoud: The Chronicles and Annalistic Sources of the Early Mamluk Circassian Period, Leiden / Boston: Brill 2007
Christian Mauder: Gelehrte Krieger. Die Mamluken als Träger arabischsprachiger Bildung nach al-Ṣafadī, al-Maqrīzī und weiteren Quellen, Hildesheim: Olms 2012
R. Kevin Jaques: Ibn Hajar, New Delhi: Oxford University Press India 2009
Owen Wright: Music Theory in Mamluk Cairo. The ġayat al-maţlūb fī ilm al-adwār wa-l-ḍurūb by Ibn Kurr , Aldershot: Ashgate 2014
Gerhard Höpp / Peter Wien / René Wildangel (Hgg.): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2004
Mit Saudi-Arabien verbindet man nicht ohne Grund einen religiös geprägten Staat. Dies liegt natürlich auch an der Selbstdarstellung des Landes. In der politischen Rhetorik sind religiöse Bezüge zahlreich vertreten und das Königshaus lässt sich gerne als "Hüter der (islamischen) heiligen Stätten" bezeichnen. Fragt man saudische Bürger, so erhält man ebenfalls als Antwort, dass ein hervorstechendes Charakteristikum des saudischen Staates die islamische Religion sei. In der Forschungsliteratur wurde diesem Phänomen durch viele Studien zum Verhältnis von Religion und Politik Rechnung getragen. Jedoch finden sich bis jetzt nur wenige Untersuchungen darüber, wie sich die Selbstbezeichnung und -wahrnehmung als nationale islamische Gesellschaft auf die individuelle sowie nationale Identität und die religiöse Pluralität im Land auswirken.
Insbesondere in jüngerer Zeit, in der die internationale Staatengemeinschaft zumindest indirekt die Religionspolitik Saudi-Arabiens für den weltweiten islamischen Terrorismus mit verantwortlich macht, wird die staatsreligiöse Ausrichtung wahhābitischer Prägung mit ihrem exklusivistischen Charakter problematisiert. Genau hier setzt die Promotionsschrift von Menno Preuschaft an, und fragt "[...] ob und inwieweit die Existenz bzw. Präsenz pluraler Weltanschauungen und unterschiedlicher islamischer Konfessionen - insbesondere von Schiiten als größter religiöser Minorität im Land - in der jüngeren Vergangenheit diskutiert wurde und inwieweit sich eine solche Debatte als Diskurs über die nationale bzw. politische Identität darstellt." (23) Denn wenn es als Saudi dazu gehört, ein sunnitischer wahhābitischer Muslim zu sein, wie können dann nicht-wahhābitische und schiitische Muslime saudische Nationalbürger sein?
Um diese und weitere Fragen zu beantworten, wählt Preuschaft einen diskursanalytischen Ansatz, mit dessen Hilfe er die Debatten, Empfehlungsschreiben und Publikationen des 2003 gegründeten "King Abd al-Aziz Center for National Dialog" (KACND) sowie Schriften, Äußerungen von und Interviews mit ausgewählten, bedeutenden Akteuren untersucht. Innerhalb dieses Materials analysiert er die Codierungen kollektiver Identitäten. Sein Interesse liegt auf den gruppenspezifischen Mechanismen innerer und äußerer Grenzziehungen und Abgrenzungen. Es geht Preuschaft darum herauszufinden, was nach Vorstellung der Diskursakteure ein saudischer Nationalbürger ist und wie sich diese Definition mit der religiösen Pluralität im Lande verträgt.
Der Autor teilt seine Studie in fünf Abschnitte ein. Im ersten Teil erläutert er seine theoretischen und methodischen Ansätze. Diese basieren zum einen auf dem von Bernhard Giesen eingeführten Konzept der "Codes kollektiver Identitäten" (39) und zum anderen auf den gängigen Ansätzen der Diskursanalyse. Im zweiten Kapitel ("Dogmatische und sozio-historische Grundlagen der Wahhābiyya") gibt der Verfasser einen Überblick über die frühe Reformbewegung Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs sowie über die enge Verbindung zwischen den wahhābitischen Gelehrten und dem Königshaus der Āl Saʿūd. Während der Sachkundige Altbekanntes neu geschildert bekommt, erhält der interessierte aber noch unerfahrene Leser eine dankbare Ansammlung von Basiswissen über die theologischen Ansichten der Wahhābiyya bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der historische Kontext dient Preuschaft dazu, jüngere Entwicklungen mit der Geschichte des Landes vergleichen zu können. Das nicht allzu überraschende Ergebnis bildet dabei die Ausgansbasis für die folgenden Teile der Arbeit: Die exklusivistische Theologie der Wahhābiyya lässt weder Platz für weitere sunnitische Strömungen - also für andere Rechtsschulen, unterschiedliche Glaubensrichtungen oder den Sufismus - noch für außersunnitische schiitische Bewegungen. Zu Recht macht der Verfasser somit eine Spannung zwischen der saudischen Nationalidentität und der vorhandenen religiösen Pluralität aus.
Die folgenden zwei Teile widmet der Autor der Darstellung und Analyse des Diskurses, welcher sich mit eben diesem Spannungsfeld beschäftigt. Daher bilden diese beiden Teile auch den Kern der Arbeit und stellen eine große Bereicherung für den aktuellen Forschungsstand über Saudi-Arabien dar. In Kapitel 3 ("Genese und Institutionalisierung des Nationalen Dialogs") geht Preuschaft auf die Gründung des KACND ein. Als Reaktion auf einen sich bildenden Diskurs über die saudische Nationalidentität im Einklang mit der religiösen Pluralität des Landes soll das Zentrum den Dialog fördern. Für das Ziel der Studie sind insbesondere das zweite Treffen des Zentrums (über "Extremismus und Mäßigung - eine umfassende methodische Vision") sowie das fünfte Meeting (zum Thema "Wir und der Andere: Eine nationale Vision zur Kooperation mit den Kulturen der Welt") von Bedeutung. Beide Events werden von dem Autor ausführlich dargestellt und analysiert.
Der vierte Abschnitt ist dann den Positionen sunnitischer und schiitischer Gelehrter gewidmet. Die detaillierte Darstellung und Analyse von Abhandlungen zur Bedeutung kollektiver saudischer Identität, zu ihren religiösen Implikationen und zu Strategien des Umgangs mit religiöser Pluralität gewährt dem Leser Einblicke in das Denken von bedeutenden Teilnehmern am Diskurs um Religion, Nation und Identität. Dabei lässt Preuschaft neben den drei schiitischen Gelehrten Ḥasan Mūsā ṣ-Ṣaffār, Muḥammad Maḥfūẓ und Zakī l-Mīlād den wahhābitischen Gelehrten Ṣāliḥ b. ʿAbd ar-Raḥmān al-Ḥuṣṣain (Vorsitzender des "Präsidiums für Angelegenheiten der zwei heiligen Moscheen", Mitglied des Rat der Großen Gelehrten und Vorsitzender des Präsidiums des KACND), den ṣahwa-Gelehrten Salmān al-ʿAuda sowie den islamo-liberalen ʿAbd al-ʿAzīz al-Qāsim zu Themen wie nationale Einheit, Pluralität und gemeinschaftliche Identität, Religionsfreiheit, sowie die Rolle Schia im Königreich zu Wort kommen.
Im fünften Teil des Buches fasst Preuschaft seine Ergebnisse zusammen. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass der Diskurs über die religiös-nationale Identität eine Reaktion auf externe Anschuldigung darstellt, oder zumindest durch diese angestoßen wurde. Er ist folglich kein Resultat einer "natürlichen" Entwicklung aus dem Miteinander konkurrierender Religionsentwürfen innerhalb der Gesellschaft. Da noch immer das wahhābitische Establishment die Deutungshoheit im Lande besitzt, ist zumindest der "offizielle" Diskurs vertreten durch den KACND stark von wahhābitischen Positionen geprägt. Dabei zeigt die Analyse der verschiedenen Diskursbeiträge, dass nahezu alle Akteure die islamische Religion als ein identitätsstiftendes Merkmal saudischer nationaler Identität betonen. Unter dem Leitgedanken der wasaṭiyya sollen Mäßigung, Toleranz, Solidarität und Dialogbereitschaft in der Theorie Platz für religiöse Pluralität machen. Kommt es allerdings zu konkreten Themen, wie z.B. die Akzeptanz der Schia, zeichnen sich deutliche Differenzen sowie Konfliktpotential ab. Al-Ḥuṣṣain, welcher das wahhābitische Establishment repräsentiert, betont zwar die Bedeutung des Dialogs, jedoch dürfte seine exklusivistische Position gegenüber den Schiiten keine wirkliche Lösung für gesellschaftliche Spannung zwischen Sunniten und Schiiten bringen, zumal er die saudische Identität an die Religion, namentlich die sunnitische wahhābitische Lesart des Islam, knüpft und damit anderen sunnitischen Ausrichtungen - geschweige denn Schiiten - kaum eine Möglichkeit lässt, ein vollwertiger saudischer Staatsbürger zu sein. Die Haltungen der beiden anderen sunnitischen Gelehrten, Salmān al-ʿAuda und ʿAbd al-ʿAzīz al-Qāsim, fallen vielversprechender aus. Während al-ʿAuda die Schiiten grundsätzlich als Muslime akzeptiert, jedoch noch bestimmte Ausprägungen der schiitischen Religionsausübung - wie die ʿAšūra-Feierlichkeiten - noch explizit als Unglaube (kufr) bezeichnet, führt al-Qāsim die Differenzierung zwischen öffentlicher und privater Religiosität ein und legt damit den Grundstein für eine tatsächliche Gewährung religiöser Freiheitsrechte für schiitische Muslime. Auch die schiitischen Diskursakteure betonen die islamische Religion als gemeinschafts- und identitätsstiftendes Moment des saudischen Staates. Handeln und schreiben sie jedoch aus der Position einer Minderheit, steht bei ihnen vor allem die Anerkennung und Wertschätzung ihrer Gemeinde im Zentrum, für deren Erreichen sie mitunter (religions-)politische Reformen anmahnen.
Preuschaft stellt mit seinem Buch einen echten Gewinn für den Forschungsstand zu Saudi-Arabien dar. Er schafft es, eine Grundlagenarbeit mit theoretischen Überlegungen zu untermauern, wodurch auch die deskriptiven Teile der Arbeit nicht als Ansammlung von Daten erscheinen, sondern sich in die übergeordnete Argumentation einordnen. Der Autor stellt Informationen zur Verfügung, welche nur schwer und nicht für jedermann zugänglich sind, sodass zu erwarten ist, dass seine Dissertation noch lange Zeit ein Standardwerk zu diesem Thema sein wird. Angesichts des doch großen Umfangs von vierhundert Seiten wäre ein Index sicher sinnvoll gewesen. Dem wissenschaftlichen Ertrag tut dies jedoch keinen großen Abbruch.
Mohammad Gharaibeh