Boris Belge / Martin Deuerlein (Hgg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brenev-Ära (= Bedrohte Ordnungen; 2), Tübingen: Mohr Siebeck 2014, X + 329 S., ISBN 978-3-16-152996-2, EUR 59,00
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Die Historisierung der sowjetischen Zeitgeschichte ist ein Trend, der die Fachwissenschaft in den letzten Jahren in eine Art Goldrausch versetzt hat. Wo der Stalinismus in seinen groben Zügen als abgehandelt gilt, birgt die Auseinandersetzung bzw. Spiegelung mit den daran anschließenden Perioden unter Chruščev und Brežnev noch jede Menge Raum für Interpretationen. Hinzu kommt, dass im Zuge des atemberaubenden gesellschaftlichen Wandels der 1950er bis 1980er Jahre sehr viel qualifizierteres und differenzierteres Quellenmaterial - neben dem "klassischen" Archivgut aus dem oftmals drögen Fundus der Partei- und Sowjetorgane - das Geschäft belebt. Unter diesen Voraussetzungen witterten auch Tübinger "Brežnevisten" Morgenluft und nahmen sich Anfang 2012 mit einem Workshop der Neuvermessung der "Brežnev-Ära" an. Daran anknüpfend vereint der vorliegende Band eine Auswahl der Tagungsbeiträge mit ergänzenden Studien.
Bereits im Titel, der mit gegensätzlichen Zuschreibungen - "goldene" Epoche vs. "Stagnation" - jongliert, deuten die Herausgeber an, welchen Herausforderungen die Forschung angesichts divergierender individueller Erfahrungen und wandelbarer geschichtspolitischer Maßstäbe gegenüber steht. So hat sich Michail Gorbačev am deutlichsten von seinem Vorgänger distanziert, indem er das Verdikt vom "zastoj" (Stillstand) prägte und auf diese Weise einen umfassenden Reformbedarf avisierte. Dagegen sind die 1970er Jahre - und darum geht es bei der Brežnev-Ära nolens volens - in den dankbaren Erinnerungen vieler Zeitgenossen als eine Zeit sozialer Sorgenfreiheit sowie des zufriedenstellenden, wenngleich bescheidenen Lebensstandards haften geblieben.
Unter diesen kontroversen Voraussetzungen schlägt die Einleitung, welche die bisherigen Forschungsansätze auf breiter Basis dokumentiert, aber auch den zeithistorischen Kontext umreißt sowie die Schieflagen der bisherigen Deutungsmuster anspricht, eine solide Schneise ins Dickicht. Zu den genannten Schlagwörtern gesellt sich darüber hinaus u.a. der Begriff der "Hyperstabilität", der zum Ausdruck bringen soll, in welch selbstreferenzieller (wenn nicht gar selbstgefälliger) Manier die politische Führung soziale und ökonomische Realitäten zur Kenntnis nahm - oder aber sich diesen komplett verweigerte. Die Stabilität der Kader war unter diesen Umständen gewiss ein Wert an sich, täuschte aber über die Lage im Lande hinweg und schloss Möglichkeiten des Interessenausgleichs sowie der Partizipation weitgehend aus. Soweit die Makroebene; folgerichtig erwarten die Herausgeber jedoch detailliertere Erkenntnisse durch die sublime Perspektive auf einzelne Unionsrepubliken oder die Beschäftigung mit den zahlreichen gigantomanischen Großprojekten, die der Zeit ebenfalls ihren Stempel aufgedrückt haben. Unter diesen Prämissen dienen die folgenden Fallstudien der differenzierten Chronologisierung der 1970er/1980er Jahre, der Rekonstruktion lokaler bzw. regionaler Spezifika sowie der Sensibilisierung für transnationale und globale Entwicklungslinien; wenngleich die Brežnev-Ära nicht in jedem Falle der konkrete historische Bezugsrahmen ist.
Kurz zusammengefasst umfasst das Kaleidoskop der Beiträge die eigenwillige Identifikation der Einwohner mit ihrer "Heldenstadt" Tula (I. Mijnssen), das Spannungsverhältnis zwischen offiziellem "Sozrealismus" und "nonkonformistischer Szene" (59), hier überwiegend am Beispiel der Malerei (A. Raev), puristische Systemkritiker und ihre kaum miteinander vernetzten Untergrundaktivitäten (E. Kasakow), sowie auf die am Reißbrett geplante sozialistisch-moderne Agglomeration Ševčenko (heute Aktau), welche innerhalb weniger Jahr in der kasachischen Wüste aus dem Boden gestampft wurde, und damit plastisch vor Augen führt, dass im technizistischen Fortschrittsoptimismus eine grundlegende Raison d'être der späten Sowjetunion zu suchen ist, aufgrund der problematischen Lebensbedingungen vor Ort jedoch eine ganz eigene Realität vorherrschte (S. Guth).
Des Weiteren thematisieren die Autoren die Ambivalenzen der populären Musikkultur (I. Grabowsky), Karrieremuster und interkulturelle Netzwerke am Beispiel sowjetischer Lateinamerikaexperten (T. Rupprecht), sowie die Metamorphose der Stadt Naberežnye Čelny - später symbolträchtig in Brežnev umgetauft! - zur industriellen Herzkammer Tatarstans, wobei insbesondere nationalitätenpolitische Direktiven eine wichtige Rolle gespielt haben bzw. heute noch spielen (E. Meier). Bei M. Florin fungiert die nationale Frage wiederum als Prüfstein für mögliche Freiräume oder aber die strikte Reglementierung dissidentischer Kritik, welche sich in der Kirgisischen Sowjetrepublik in den 1970ern zunehmend an "Russifizierung" und (vermeintlicher) Fremdbestimmung entzündete. Und auch M. Rolf verweist am Beispiel des national motivierten Dissens in Litauen auf die Dynamiken der Peripherie, deren zahlreiche Widersprüche einerseits aus der fortschreitenden Lituanisierung der öffentlichen Sphäre, und anderseits aus dem Anspruch erwuchs, die Republik zur einer sowjetischen Nation zu formen.
Die Schlusssynthese ist Klaus Gestwa vorbehalten, der ähnlich wie die Herausgeber die Frage aufgreift, welche Bedeutung der Brežnev-Ära innerhalb der sowjetischen Geschichte zukommt. In seiner Betrachtung tritt die nostalgische Glorifikation eindeutig hinter die Krisenwahrnehmung und den Reformbedarf zurück, der zu Beginn der 1980er Jahre unter Eliten und Wirtschaftsexperten, ja zum Teil selbst auf höchster Ebene unstrittig gewesen sei. Die sozialen Wohltaten hätten sich daher nicht mehr garantieren lassen; dies war offenbar auch für die breite Masse der Bevölkerung der Anlass, der ständigen Mobilisierbarkeit für die sowjetische Ordnung mit zunehmender Gleichgültigkeit zu begegnen.
Insofern besitzt die Brežnev-Zeit natürlich eine herausgehobene Bedeutung für die spätere Phase der Glasnost und Perestroika unter Gorbačev, jedoch ist die empirische Probe aufs Exempel ganz offenkundig nicht dazu geeignet, die vorangegangenen, z.T. rasanten Entwicklungen im Lande pauschal als eine Zeit völliger Immobilität in Misskredit zu bringen. Im Gegenteil: Es eröffneten sich kulturelle Spielräume, nationale Triebkräfte entfalteten sich; auf der anderen Seite zehrte die Sowjetunion zur selben Zeit von ihrer wirtschaftlichen und technischen Substanz, offenbarten sich gesellschaftliche Deformationen sowie ökologische Pathologien.
Ein Sammelband ist sicherlich nicht dafür gedacht, sämtliche weiße Flecken innerhalb der Forschung auf einen Schlag zu beseitigen. Ein bis zwei weitere Aspekte hätten das Bild dennoch - u.a. in der Einleitung - abrunden können: Dazu zählt z.B. das Thema Freizeit und Mediennutzung [1] sowie Überlegungen zum paternalistischen Innenleben der Partei [2]. Auch die nach wie vor intakten stalinistischen Grundlagen des Systems werden nicht eingehender diskutiert. [3] Abgesehen von diesen offen gebliebenen Wünschen hat das "Redaktionskollektiv", gerade auch in analytischer Hinsicht, ganze Arbeit geleistet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Kirsten Bönker: "Dear Television Workers ...". TV Consumption and Political Communication in the Late Soviet Union, in: Cahiers du monde russe 56 (2015), H. 2-3, 371-399.
[2] Vgl. z.B. Andreas Oberender: Die Partei der Patrone und Klienten. Formen personaler Herrschaft unter Leonid Brežnev, in: Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, hg. von Annette Schuhmann, Köln / Weimar / Wien 2008, 57-76.
[3] Ein eher polemisches Beispiel wäre Victor Zaslavsky: The Neo-Stalinist State. Class, Ethnicity, and Consensus in Soviet Society, Armonk/NY 1982.
Rayk Einax