Gregor Schöllgen: Gerhard Schröder. Die Biographie, München: DVA 2015, 1039 S., 80 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04653-6, EUR 34,99
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Die derzeit boomende gegenwartsnahe Zeitgeschichte hat Gregor Schöllgen um ein gewichtiges Werk bereichert: eine umfassende Biographie des Reformkanzlers Gerhard Schröder. [1] Schöllgen stützt sich auf Quellen, deren Archivierung Schröder selbst zunächst gar nicht bewusst war, besonders einen umfangreichen Terminkalender und verstreute Aufzeichnungen des "mündlichen Kanzlers". Ferner standen ihm Akten des Bundeskanzleramtes, die er zum Teil aber nicht zitieren und nachweisen durfte, Protokolle von SPD-Partei- und Fraktionsgremien, zahlreiche Zeitzeugen und die publizierten Quellen zur Verfügung. Insgesamt handelt es sich also um eine außergewöhnlich günstige Quellenlage für das Großporträt eines noch lebenden Akteurs. Schöllgen hat viel daraus gemacht. Das Buch liest sich gut, es stellt eine imponierende Leistung dar. Als Historiker wird man einige der vielen kleinen eingeschobenen und daher den Lesefluss eher störenden Biogramme überschlagen, die allzu bekannte personae dramatis der Zeitgeschichte vorstellen; möglicherweise sind einige Leser dafür aber auch dankbar. Auch hätte die ein oder andere eher ergebnisarme Auslandsreise des Kanzlers sicher ohne Verlust ungeschildert bleiben können. Sei es drum, Schöllgens Stärke liegt insbesondere in der Analyse von politics, den Machtverhältnissen und Machtkämpfen von und in Staaten, Regierungen, Parteien, Fraktionen, Medien; policy und polity werden, wie vom Biografierten selbst und damit stimmig, zumeist als nachrangig angesehen.
Schröder wird in denkbar prekäre Verhältnisse hineingeboren. Der Vater war ein mehrfach vorbestrafter Gelegenheitsarbeiter, der im Krieg fiel. Schröder lernt ihn nicht kennen, erhält erst während seiner Kanzlerschaft ein Bild des Wehrmachtssoldaten, das von nun an seinen Kanzlerschreibtisch ziert. Die Mutter heiratet den Mann ihrer Schwiegermutter, die gleichwohl im Haushalt präsent bleibt. Mittlere Reife und Abitur muss der gelernte Einzelhandelskaufmann auf dem zweiten Bildungsweg nachholen. Schröder studiert Jura in Göttingen und fängt eine Promotion an. Die Wissenschaft ist aber seine Sache nicht. Er entdeckt die Politik. Nach einiger Suche, die ihn bis auf einen Parteitag der Deutschen Reichspartei führt, schließt er sich der SPD und den Jungsozialisten an. Schröder eignet sich Marx-Zitate aus dritter Hand an, ein Dogmatiker ist er ganz und gar nicht. Die programmatische Konstante bleibt zeit seines Lebens die Ermöglichung sozialen Aufstiegs, eine Chance, die jedermann erhalten soll, die allerdings auch jedermann selbst ergreifen muss. Darüber hinaus hat er ein einziges Ziel vor Augen: die Akkumulation persönlicher Macht.
Bei den verwinkelten Theoriedebatten der Jusos Ende der 1970er Jahre schlägt er sich zunächst auf die Seite der Antirevisionisten, paktiert aber auch mit dem Stamokap-Flügel. Schröder geht jedoch in der organisationstypischen Rebellion gegen die Mutterpartei nie so weit, das Band zerreißen zu lassen. Er wendet sich gegen die von Helmut Schmidt betriebene Nachrüstung, bewundert den Kanzler aber und sucht auch öffentlichkeitswirksam dessen Nähe. Schon in dieser Zeit hat er dessen Amt fest im Blick. Er ist sich dennoch nicht zu schade, in die niedersächsische Landespolitik zu wechseln. Dort erteilt er einer Koalition mit den Grünen überraschend eine Absage. Dahinter stand die Strategie von Johannes Rau, der tatsächlich damals auf eine absolute SPD-Mehrheit setzte. Schröder, kein Freund von Rau, fügt sich. Als Schröder dann Ministerpräsident von Niedersachsen wird, entwickelt er sich zum Wirtschaftsförderer. 1997 ringt er der SPD programmatisch Teile der sozialpolitischen Modernisierung ab, die er später zur "Agenda 2010" entwickelt. Weiter heißt Schröders Programm aber in erster Linie Schröder, und dies führt ihn in Konflikt mit Scharping und Lafontaine, mit der er die zweite Troika der SPD bildet, und mit weiten Teilen der Partei. Aber Scharping kann es nicht und Lafontaine, den Schöllgen etwas einseitig negativ porträtiert, zögert. Also greift Schröder nach vielen Rückschlägen nach der Kanzlerkandidatur. Die Ablösung Kohls gelingt Schröder 1998, getragen von einer Welle der Medien, die ihn 2005 wieder aus dem Amt spülte, so jedenfalls seine eigene Wahrnehmung. Ein irritierender Herdentrieb der Meinungsmacher wird jedenfalls in Schöllgens Darstellung an vielen Stellen erkennbar.
Schröders Kanzlerschaft kulminiert 2003, als er die "Agenda 2010" ankündigt und ins Werk setzt und gleichzeitig in Konfrontation zu den USA Deutschland aus dem Irak-Krieg heraushält - mehr oder weniger jedenfalls, denn mit Überflugrechten für die amerikanische Luftwaffe, Spürpanzer in Kuwait, Entsendungen von Patriot-Raketen in der Türkei, deutschen AWACS-Aufklärungsflugzeugen über dem türkischen Luftraum und vor allem zwei eigenartigerweise offenbar sehr wichtigen BND-Mitarbeitern in Bagdad ist Deutschland doch irgendwie beteiligt. Viel mehr wäre das unter einem Kanzler Stoiber wohl auch nicht geworden, denn ohne UN-Mandat wäre ein deutscher Kampfeinsatz im Irak sowieso nicht öffentlich vermittelbar gewesen, so jedenfalls Stoiber in der Rückschau gegenüber Schöllgen. Schröder hatte sich aber klar und deutlich seit dem Wahlkampf 2002 gegen den Irak-Krieg positioniert, weniger klar in einem Gespräch mit George W. Bush zuvor.
Herzstück der "Agenda 2010" ist die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf ein bedarfsabhängiges Niveau (Hartz IV) unter Anrechnung des Vermögens, dies gilt schon nach 12 Monaten Arbeitslosigkeit für die unter 55-Jährigen. Der Hartz IV beziehende Arbeitslose ist verpflichtet, ihm angebotene zumutbare Arbeit anzunehmen, ansonsten wird er sanktioniert (was so flächendeckend und umstandslos in der Praxis nicht passiert). Schöllgen beurteilt dies als "radikalste Kürzung von Sozialleistungen in der Geschichte der Bundesrepublik" (740), was wohl als Kompliment gemeint ist.
Erkennbar sympathisiert der ausgewiesene Machtrealist Schöllgen auch damit, dass Schröder das vereinte Deutschland zu einer selbstbewussten außenpolitischen Macht entwickelt hat und rügt dessen vorherige Absage an Out-of-Area-Einsätzen. Hier wie auf vielen anderen Feldern - beispielsweise war Schröder erst gegen, dann für den Asylkompromiss - ändert Schröder seine Positionen dramatisch, ohne dass er in große Erklärungsnöte gelangt.
Gestürzt ist Schröder in erster Linie über seine eigene Partei, aus der einige wie Lafontaine zur neu gegründeten Partei "Die Linke" überliefen, andere ihm Wahlkämpfe verhagelten und negative Schlagzeilen lieferten. Dass er es 2005 dann entgegen aller Erwartungen beinahe doch noch einmal geschafft hätte, zeugt von den Wahlkampfqualitäten dieses Kraft- und Machtmenschen.
Nach seiner Abwahl legte Schröder als Altkanzler eine Rastlosigkeit an den Start, die zu einigen wenig überlegten Projekten führte: so seine zwar von Carsten Maschmeyer (der ihm mit teuren Anzeigen schon zum Wahlerfolg in Niedersachsen 1998 verhalf, was die Voraussetzung für die Kanzlerkandidatur war) üppig dotierten, aber von seinem ehemaligen Regierungssprecher Heye und anderen allzu hastig zusammengeschriebenen Erinnerungen; so seine zahlreichen Beraterjobs, von denen seine Tätigkeit für die Gazprom-Tochter Nord Stream AG das meiste Aufsehen erregte. Schröder hatte das Projekt der Ostsee-Pipeline schon in seiner Kanzlerschaft wohlwollend begleitet. Aber auch zahlreiche Reisen, etwa in den Iran während der Amtszeit von Ahmadinedschad, wurden bei Weggefährten und Medien kritisch aufgenommen. Schöllgen übt nur sehr zurückhaltend Kritik an den Aktivitäten des Altkanzlers.
Zur Partei bleibt Schröders Verhältnis zwiespältig. Erste Korrekturen der "Agenda 2010" kommentiert er noch so generös, dass er damit Franz Müntefering, der das Erbe zu retten versucht, vor den Kopf stößt. Als die SPD aber dann daran geht, vor dem Hintergrund der prekären demographischen Entwicklung der Deutschen ausgerechnet die Rente mit 67 abzuwickeln, übt Schröder Kritik. Ansonsten unterstützt er nur fallweise ihm besonders verbundene Genossen in Wahlkämpfen, die dadurch jedes Mal sogleich an Stimmung und Gewicht gewinnen. Als er einer Einladung des SPD-Verbandes Wolfratshausen folgt, landet er am Frühstückstisch von Edmund Stoiber. Noch enger ist und bleibt er mit Putin verbunden - das ihm von Reinhold Beckmann in den Mund gelegte Wort vom "lupenreinen Demokraten" verfolgt ihn wie ein einziger (!), längst ausgemusterter Brioni-Anzug. Bleibende Loyalität gehört sicher zu Schröders wichtigen Charaktereigenschaften. Mit Bild und Spiegel in personis von Kai Diekmann und Stefan Aust söhnt Schröder sich aus, nachdem er in den von diesen beiden journalistischen Alphatieren geführten Leitmedien lange Zeit die Schuldigen seiner Abwahl ausgemacht hatte.
Zum Schluss dieses Mammutwerkes entlässt uns Schöllgen mit der privaten Nachricht, dass Gerhard Schröder und seine vierte Ehefrau Doris Schröder-Kopf, diese nun politisch tätig, doch zusammenbleiben. Endlich einmal ein Happy End!
Anmerkung:
[1] Vgl. Andreas Rödder: 21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015; Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998-2005, München 2013. Siehe auch die bei Wallstein von Frank Bösch und Martin Sabrow herausgegebene Reihe "Geschichte der Gegenwart" http://www.wallstein-verlag.de/buchreihen/geschichte-der-gegenwart-1.html.
Peter Hoeres