Sebastian Tripp: Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970-1990 (= Geschichte der Religion in der Neuzeit; Bd. 6), Göttingen: Wallstein 2015, 320 S., ISBN 978-3-8353-1628-7, EUR 39,90
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Als "Vorgeschichte der Gegenwart" [1] gilt den 1970er und 1980er Jahren momentan die verstärkte Aufmerksamkeit der Zeitgeschichtsforschung. Der Wandel in Politik und Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft vollzog sich als krisenhafter Umbruch, neoliberaler Durchbruch sowie zivilgesellschaftlicher Aufbruch. Die hohe, schon zeitgenössisch wahrgenommene Veränderungsdynamik macht jene Epoche "nach dem Boom" zu einem reizvollen Forschungsobjekt, auch und gerade auf dem starken Wandlungen unterliegenden Feld von Religion und Kirche. Einen eindrucksvollen Beleg hierfür liefern die Ergebnisse der einstigen DFG-Forschergruppe 621, die sich seit 2005 in über 130 Publikationen der "Transformation der Religion in der Moderne" gewidmet hat. [2]
Das Thema der Bochumer Dissertation von Sebastian Tripp fügt sich geradezu mustergültig in das Forschungsprofil jener Gruppe ein. Aus Protest gegen die südafrikanische Politik der Rassentrennung formierte sich in der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren eine Anti-Apartheid-Bewegung, deren Ziel es war, das rassistische Regime zu ächten und zugleich auf die Verflechtungen zwischen Südafrika und der Bundesrepublik auf politischem, wirtschaftlichem und kirchlichem Gebiet hinzuweisen. Neben Gewerkschaften, "Dritte-Welt"-Läden und Nichtregierungsorganisationen waren es vor allem kirchliche Gruppen, die das Bild jener Protestbewegung prägten. Die Kampagnen und das Selbstverständnis protestantischer Anti-Apartheid-Gruppen werden in der Studie gleichermaßen als Symptom und Katalysator eines Transformationsprozesses innerhalb des westdeutschen Protestantismus analysiert.
Einer knappen Einleitung folgt ein ebenso informatives wie souveränes Überblickskapitel zur Geschichte der Apartheid sowie zum Protest dagegen in der westlichen Öffentlichkeit und in der Ökumene. Der anschließende Hauptteil gliedert sich in drei zumeist chronologisch strukturierte Kapitel, in denen gezielt ausgewählte Themenkomplexe behandelt werden, die von hoher Bedeutung für die Auseinandersetzung des westdeutschen Protestantismus mit der Apartheid waren.
Dies gilt zunächst für die Kontroverse um das Anti-Rassismus-Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Im Bestreben, nicht allein den Opfern rassistischer Unterdrückung zu helfen, sondern deren Ursache aktiv zu bekämpfen, beschloss der ÖRK im September 1970, auch solche Organisationen mit Geldern aus einem Sonderfonds zu unterstützen, die ihren Kampf gegen den Rassismus notfalls mit Gewalt zu führen bereit waren. Die EKD und ihre Gliedkirchen sahen sich somit vor die Frage gestellt, ob die finanzielle Förderung eines solch heiklen Programms legitim sei.
Die Diskussionen werden hier wie auch in den folgenden Kapiteln sehr detailliert und quellennah geschildert. Als Fallbeispiel dient die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, die den Fonds als einzige Landeskirche mit Kirchensteuergeldern unterstützte. Diese Entscheidung mit der "ökumenischen Tradition" (75) der Landeskirche zu begründen, geht indes am Kern der Sache vorbei und verweist auf einen blinden Fleck der Studie, nämlich die mangelnde Berücksichtigung konfessions- und kirchenpolitischer Traditionen und Beharrungskräfte. Ein Blick auf die innerprotestantischen Frontstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg hätte gezeigt, dass die hessen-nassauische Kirche mit ihrem langjährigen Präsidenten Martin Niemöller als Kopf eines starken Bruderratsflügels in fast allen neuralgischen Fragen dezidiert andere, tendenziell "linkere" Positionen vertreten hatte als der lutherisch-konservative Mehrheitsprotestantismus. Und schon damals, nicht erst in den 1970er Jahren, handelte jener barthianisch geprägte Flügel in der Gewissheit, die "richtigen" Lehren aus der NS-Zeit zu ziehen.
Gleichwohl: Die geschilderten Reaktionen auf den umstrittenen Sonderfonds-Beschluss zeugen nachdrücklich von der zeitgenössischen Furcht vor einer (Links-)Politisierung der Kirche, teilweise auch von der Beständigkeit nationalprotestantischer Mentalitäten. "Die Kirche", so heißt es etwa in der Zuschrift eines empörten Gemeindemitglieds, "soll sich mehr um die Armen, Heimatlosen und Verzweifelten in unserem Land kümmern. Das ist ihre einzige und wahre Aufgabe, aber nicht die verfluchte, dreckige Politik." (68) Hier wird das Unbehagen an einem Wandlungsprozess evident, der von einer Transzendierung des nationalen Horizonts und einer Öffnung für ökumenische und globale Themen auch auf regionaler und lokaler Ebene gekennzeichnet war; in Anlehnung an den britischen Soziologen Roland Robertson spricht Tripp treffend von einer "'Glokalisierung' der Kirche" (75, 104).
Im zweiten, äußerst instruktiven Hauptkapitel wird diese Dimension der Transformation aufgegriffen und um weitere Aspekte ergänzt. Am Beispiel der von der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland (EFD) organisierten Boykottaktion gegen den Kauf südafrikanischer Produkte zeigt der Autor überzeugend einen Prozess der Politisierung und auch Emanzipierung von Frauen im kirchlichen Bereich auf, die sich anfangs als "nur fromm und nicht politisch" (181) empfanden. Doch was Ende der 1970er Jahre mit einer Boykottwoche gegen den Kauf von Früchten aus Südafrika begann, wuchs sich im Laufe der 1980er Jahre zu einer umfassenden Anti-Apartheid-Kampagne aus, die in ihren Ausdrucksformen unschwer als Teil einer neuen Protestkultur zu erkennen ist. Mit Boykottseminaren und Schweigemärschen, Straßentheatern und Rollenspielen agierten viele Frauen aus einem zumeist bürgerlich-ländlichen Kirchenmilieu erstmals politisch und verstießen somit gegen Rollenerwartungen in einer nach wie vor männlich dominierten Kirche. Die mit der Südafrikaarbeit der EFD vollzogene Abkehr von tradierten Formen und Themen kirchlicher Frauenarbeit habe - so die anregende Beobachtung des Autors - einen Brückenschlag zu den Neuen Sozialen Bewegungen ermöglicht.
Mit dem "Reizthema Südafrika" (255) beschäftigte sich seit 1973 auch der Deutsche Evangelische Kirchentag, dem das dritte Hauptkapitel gewidmet ist. Zum Symbol eines sich pluralisierenden religiösen Massenmarktes wie auch einer zeitgeistigen Anpassungsfähigkeit und -willigkeit des Protestantismus avancierte der 1975 erstmals abgehaltene "Markt der Möglichkeiten". Dort kam es zur Konfrontation zwischen alternativen Basisgruppen, die Sympathien für die Befreiungsbewegungen hegten, und konservativen Gruppierungen wie dem "Arbeitskreis Christen für Partnerschaft statt Gewalt", der die Boykottaktion als Versuch einer kommunistisch motivierten Politisierung der Kirche zurückwies. Zu einem tatsächlichen Politikum geriet 1987 die Entscheidung des Kirchentagspräsidiums, auf Druck der Anti-Apartheid-Gruppen seine Konten bei der Deutschen Bank zu kündigen, die Geschäftsbeziehungen zum südafrikanischen Regime unterhielt.
Am Konflikt um das Für und Wider der Kontenkündigung versucht Tripp, neue Lagerbildungen innerhalb des Protestantismus aufzuzeigen, die quer zu hergebrachten konfessionellen Gegensätzen verliefen. Tatsächlich ist es das große Verdienst der Studie, verschiedene Dimensionen des Transformationsprozesses im westdeutschen Protestantismus am klug gewählten Beispiel der Anti-Apartheid-Bewegung auf anschauliche Weise herausgearbeitet zu haben. Die Fokussierung auf Wandlungstendenzen hat allerdings deren Überbetonung sowie damit einhergehend eine allzu starke Vernachlässigung der ebenso wirkmächtigen Beharrungskräfte zur Folge. Eine gezieltere Berücksichtigung konfessioneller und kirchenpolitischer Prägungen von Institutionen wie auch von Akteuren hätte zusätzliche Erkenntnispotentiale eröffnet. [3] Bei aller verständlichen Faszination für Neuerungen sollten Arbeiten über die 1970er und 1980er Jahre das für jene Epoche so charakteristische Nebeneinander von Wandel und Kontinuität in stärkerem Maße berücksichtigen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hgg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.
[2] Vgl. http://www.fg-religion.de.
[3] Zwei Beispiele: Die lakonische Abstempelung der frühen Kirchentage zu "eher missionarisch ausgerichteten Massenveranstaltung[en]" (187) mag zwar die These eines dynamischen Wandels seit den 1960er Jahren stützen, zeugt aber von einer Verkennung der politischen Brisanz der (gesamtdeutschen!) Kirchentage in den 1950er Jahren.
Ludwig Metzger, Befürworter des Sonderfonds-Beschlusses der hessen-nassauischen Kirche, war in der Weimarer Republik Vorsitzender des Bundes religiöser Sozialisten in Hessen, im "Dritten Reich" in der Bekennenden Kirche aktiv, 1947 an der in Hessen erfolgten Gründung einer "Arbeitsgemeinschaft für Christentum und Sozialismus" beteiligt und in der SPD gemeinsam mit Adolf Arndt der wohl eifrigste Mittelsmann zwischen dem Niemöller-Flügel und der Sozialdemokratie. Für eine Einordnung seiner Zustimmung zum umstrittenen Sonderfonds-Beschluss wäre dieser biographische Hintergrund durchaus relevant. Dem Leser wird Metzger indes lediglich als ehemaliger Oberbürgermeister von Darmstadt (78) vorgestellt.
Kristian Buchna