Ines Weber: Sozialismus in der DDR. Alternative Gesellschaftskonzepte von Robert Havemann und Rudolf Bahro (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2015, 344 S., ISBN 978-3-86153-861-5, EUR 35,00
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Die Schriften der wohl bekanntesten marxistischen Kritiker des Gesellschaftssystems der DDR, Rudolf Bahro und Robert Havemann, erleben derzeit eine überraschende Renaissance. Nachdem Alexander Amberger die ökologischen Aspekte in den politischen Utopien von drei prominenten Dissidenten in der DDR untersucht und deren Texte in die Utopiegeschichte eingeordnet hat [1], analysiert nun Ines Weber in ihrer Dissertation die von Havemann und Bahro entwickelten Sozialismuskonzeptionen aus politiktheoretischer und ideenhistorischer Perspektive.
Breiten Raum nehmen im ersten Teil der Darstellung Überlegungen zu den geistigen Wurzeln sozialistischer bzw. kommunistischer Ideen bei Marx, Engels und Lenin ein. Weber hält diesen ideengeschichtlichen Exkurs für notwendig, um den Werdegang sowie die Schriften Bahros und Havemanns einordnen zu können. Überdies gibt sie einen Überblick über die ideologischen Grundlagen der Herrschaftspraxis der SED für die Zeit nach 1945, um die alternativen Sozialismuskonzepte Havemanns und Bahros in einen ideengeschichtlichen und zeithistorischen Kontext stellen zu können. Dieser Teil enthält eine Kurzfassung der Geschichte der DDR mit ihren politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen sowie den herrschenden Ideologiekonzepten. Fraglich ist indes, ob diese geraffte Überblicksdarstellung für das Verständnis der Schriften Bahros und Havemanns wirklich notwendig ist, zumal in einem solchen Streifzug durch die Herrschaftspraxis der SED notwendige Differenzierungen nicht möglich sind. Zudem werden in diesem Teil Aussagen getroffen, die empirisch kaum oder unzureichend belegt werden können. So schreibt Weber von "massenhaften Parteiaustritten von zum Teil ganzen Ortsverbänden" der SED als Reaktion auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 sowie von "tausenden Mitgliedern" der SED, die die Parteiführung im Zuge der Proteste gegen die Ausbürgerung des Liedermachers "entließ"(146).
Der dritte und der vierte Teil des Buches widmen sich schließlich den gesellschaftskritischen Analysen und alternativen Gesellschaftskonzepten Bahros und Havemanns. Dabei geht es zunächst um Leben und Werk, dann um die jeweiligen gesellschaftskritischen bzw. sozialistisch-alternativen Haupttexte. Sowohl Havemann als auch Bahro werden als Marxisten und Sozialisten beschrieben, die in der Auseinandersetzung mit der Herrschaftspraxis der DDR zunächst auf kritische Distanz zur SED gingen und schließlich eine theoretisch-utopische Alternative zum realen Sozialismus, aber auch zum westlichen Kapitalismus entwickelten. Für beide wurden politische Ereignisse zum Ausgangspunkt gesellschaftskritischer Überlegungen. Weber zufolge wurde der XX. Parteitag der KPdSU 1956 zum Wendepunkt in den Ansichten Havemanns. Die damaligen Enthüllungen über einen Teil der Verbrechen Stalins nutzte Havemann, zu dieser Zeit ordentlicher Professor und Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, um eine Debatte über freien wissenschaftlichen Meinungsstreit sowie über Meinungsfreiheit im Allgemeinen anzuregen. Zwar fand sich Havemann nach Angriffen auf seine politischen Äußerungen auf der dritten Hochschulkonferenz im März 1958 zu öffentlicher Selbstkritik bereit, doch argumentierte er seit den 1960er Jahren erneut gegen den philosophischen Dogmatismus im herrschenden Ideologiekonzept der SED-Führung.
Die von Havemann entwickelte sozialistische Alternative ordnet die Autorin in das traditionelle marxistisch-leninistische Sozialismusbild ein. Trotz seiner kritischen Ansätze habe er in seiner "Zwei-Phasen-Theorie" die DDR in einer ersten Phase auf dem Weg zum Sozialismus gesehen, dem in einer zweiten Phase ein weiterer Schritt folgen sollte, um die Revolution zu vollenden. Insofern habe Havemann in seinen politischen Texten nicht vollständig mit den offiziellen Ansichten der SED gebrochen.
Mit Blick auf den von Weber skizzierten Werdegang Havemanns fällt auf, dass es über ihn noch immer keine umfassende Biografie gibt, die einerseits wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird und andererseits die Kontakte Havemanns mit ostdeutschen und sowjetischen Geheimdiensten hinreichend erklären kann. Schließlich können die auch von Weber angebotenen Erklärungen über den Einstellungswandel Havemanns in den 1950er Jahren nicht voll überzeugen. Denn bekannt ist, dass Havemann nach dem Krieg enge Kontakte zu West-Berliner Sozialdemokraten hielt und sich in privaten Diskussionen sehr distanziert zum stalinistischen Gesellschaftsmodell der Sowjetunion und zur Politik der SED äußerte. Dennoch engagierte er sich öffentlich uneingeschränkt für die politischen Ziele der SED, trat als Dekan für Studienangelegenheiten der Humboldt-Universität in den Jahren von 1950 bis 1954 mit rigiden Disziplinierungen gegen renitente Studenten in Erscheinung und ging gegen die Zulassung einer unabhängigen Studentenvertretung vor. Diese Wandlung Havemanns kann auch Weber nicht erklären. Sie folgt Havemanns eigener Version, der zufolge er ein Stalinist gewesen sei, der als Marxist und Leninist schließlich die stalinistischen Systemfehler im sowjetischen Gesellschaftsmodell erkannt habe. Insofern gibt es weiteren Forschungsbedarf und die Hoffnung, dass es irgendwann einen differenzierteren Blick auf diese eigenwillige Persönlichkeit geben wird.
Bahro wurde durch die Intervention in die ČSSR 1968 zum Verfassen seiner Schrift "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus" motiviert. Weber analysiert Bahros kritische Bestandsaufnahme des Realsozialismus und arbeitet vor allem den ideellen Kern seines Werkes heraus: das Konzept der asiatischen Produktionsweise. Bahro sah in dem "orientalischen Knechtschaftsverhältnis" zwischen Bevölkerung und Staat das eigentliche Herrschaftsgerüst im Realsozialismus, das mit Hilfe einer Kulturrevolution überwunden werden müsse. Weber macht in Bahros Verständnis von der Rolle einer wissenden Führungselite in seiner "Alternative" starke Bezugspunkte zu Lenins Avantgardeverständnis aus und damit autoritäre Merkmale in seinen Gesellschaftsvorstellungen, die schwer mit seiner Idee von sozialer Freiheit in Übereinstimmung gebracht werden können.
Sie analysiert die philosophischen Kontinuitäten und geistigen Wandlungen in den Schriften der zwei marxistischen Dissidenten. Dabei arbeitet sie Gemeinsamkeiten und Differenzen heraus. Als wesentliche Differenz beschreibt sie den emanzipatorischen Anspruch, den sie bei Havemann und Bahro unterschiedlich bewertet. Während Havemanns Sozialismuskonzeption stark auf eine Demokratisierung der Gesellschaft, Pluralismus und die Verwirklichung der menschlichen Emanzipation abziele, sei für Bahro die Partizipation ein exklusives Unterfangen einer elitären Gruppe. Für Weber ist Bahros "Alternative" lediglich "alter Wein in neuen Schläuchen, der noch nicht einmal den demokratischen Anschein zu wahren versucht" (314). In der Reaktion auf die ökologischen Herausforderungen sieht sie eine Gemeinsamkeit in den späten politischen Utopien Havemanns und Bahros. An die Stelle von Ressourcenverschwendung der Industriegesellschaft mit ihrem materiellen Überfluss treten in deren Texten Ökologie und ein neues Verhältnis zur Natur. Im Unterschied zu Havemann, der seinen utopischen Gesellschaftsentwurf in ein kommunistisches Ideal eingebettet habe, habe sich Bahro seit den 1980er Jahren von der sozialistischen Idee entfernt und die Bewahrung der Natur als vorrangiges Ziel gesehen, die nur durch eine vollständige Abkehr von der industriellen Produktionsweise möglich sei.
Ines Weber ist es gelungen, die systemkritischen Gesellschaftsvorstellungen von zwei marxistischen Dissidenten eingehend darzustellen, die scharfen Repressionen der SED-Führung ausgesetzt waren. Der ideelle Kern der vorgestellten Alternativentwürfe Bahros und Havemanns wird in deren historischen Entstehungskontext eingeordnet und kenntnisreich analysiert. In Ergänzung der ideenhistorischen und politiktheoretischen Perspektive des Buches hätte man gerne mehr über die DDR-internen Reaktionen auf die Texte Havemanns und Bahros erfahren. Das Buch fordert weitere Diskussionen heraus und trägt maßgeblich dazu bei, das Wissen um die ideologischen Grundlagen und politischen Bedingungen oppositionellen Denkens in der DDR zu erweitern.
Anmerkung:
[1] Alexander Amberger: Bahro - Harich - Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Paderborn 2014. vgl. die Rezension in sehepunkte 16 (2016), Nr. 2; URL: http://www.sehepunkte.de/2016/02/26328.html
Andreas Malycha