Heiner Grunert: Glauben im Hinterland. Die Serbisch-Orthodoxen in der habsburgischen Herzegowina 1878-1918 (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 588 S., ISBN 978-3-525-31029-8, EUR 90,00
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Vierzig Jahre lang gehörte die Herzegowina zur Habsburger-Monarchie. Seit 1878 unter österreichisch-ungarischer Verwaltung, 1908 annektiert, wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Die Mehrzahl der Bevölkerung gehörte der orthodoxen Kirche an, doch gab es auch muslimische und katholische Minderheiten. Heiner Grunert legt mit seiner Münchener Dissertation eine Mikrostudie vor, die der religiösen Kultur der orthodoxen Bevölkerung in ihren Äußerungen und Strukturen nachgeht.
Grunert setzt mit der dichten Beschreibung des religiösen Alltags ein. Die wichtigste religiöse Feier war die des Familienpatronats. Die "slava" wurde im Kreis der Familie gefeiert, eine Beteiligung des orthodoxen Priesters war erwünscht, aber nicht immer möglich. Die entscheidende Person war das männliche Oberhaupt der Familie. Diese patrilineare Struktur kann Grunert an zahlreichen weiteren Beispielen erhärten. Die herzegowinische Bevölkerung feierte viele religiöse Feste, die häufig einen christlich-vorchristlichen Ursprung aufwiesen. An den beliebten Heiligen, wie des ersten serbisch-orthodoxen Erzbischofs Sava und der alttestamentlichen Gestalt des Elija, zeigt sich die Mischung aus historischen Erinnerungen und volkstümlichen Zuweisungen ganz besonders. Ein wichtiges Anliegen der Priester bestand deshalb darin, diese beliebten Feiern stärker der kirchlichen Kontrolle zu unterwerfen. Gerade die "slava"-Feier verband die drei religiösen Gruppen, weil ihre Bedeutung zunehmend ethnisiert wurde. Sie wurde zu einem Kennzeichen des Serbentums, unabhängig von der Religionszugehörigkeit.
Traditionen bestimmten auch die sozialen Bindungen. Ehen wurden von den Familien und der Dorfgemeinschaft ausgehandelt und kontrolliert. Das Ritual der Eheschließung spielte sich im familiären Rahmen ab, häufig ohne Beteiligung des Priesters. Ein doppelter Prozess fand statt: Religiös gemischte Ehen nahmen zu, während gleichzeitig eine Konfessionalisierung stattfand - die Rituale wurden entweder bekämpft, wie Verschwisterungen und Haarschurpatenschaften, oder stärker in die Kirche integriert. Dadurch wurde die "religiöse Grenze" sichtbarer gemacht. Die Ambivalenz der interreligiösen Kohabitation bringt Grunert prägnant zum Ausdruck: "Der Blick orthodoxer Gläubiger auf Imame, Hodžas, katholische Priester und Franziskanermönche war dabei ganz klar einer von außen, obwohl sie selbst von ihnen mitunter Heilsgüter bezogen." (264)
Nach dem konsequent von unten her entwickelten Blick auf die Orthodoxie in der Herzegowina analysiert Grunert im zweiten Teil seiner Studie die religiöse Organisation und die Geistlichkeit. Erst durch die habsburgische Verwaltung wurde die eparchiale Organisation der orthodoxen Kirche aufgebaut. 1905 kam es zu einem Kirchenstatut, das dem Aufsichtsrecht der Regierung und den autonomen Administrationen der Laien und Geistlichen Rechnung trug. Auch die Kirchgemeinden profitierten von der habsburgischen Verwaltung, die ab den 1880er Jahren für einen verstärkten Kirchenbau sorgte, dadurch den Unterschied zwischen den Stadt- und Landgemeinden verringerte und die Möglichkeit zu Vergesellschaftung in Form von Vereinen schuf. Durch eine bessere materielle Absicherung und Bildung wurden die Pfarrer stärker in ihre religiösen Pflichten eingebunden, verloren aber gleichzeitig den Einfluss im gesellschaftlichen Bereich. Grunerts Zusammenfassung: "Die religiöse Organisation der serbisch-orthodoxen Kirche gewann durch den national-religiös geprägten politischen Kampf um die Kirchen- und Schulautonomie der 1890er bis 1900er Jahre an gesellschaftlicher Bedeutung, jedoch um den Preis ihrer Laisierung und Profanisierung in weiten Bereichen." (504)
Das wichtigste Ergebnis der 40 Jahre habsburgischer Verwaltung in der Herzegowina, die 1908 in die Donaumonarchie eingegliedert wurde, war eine Stärkung der religiösen und staatlichen Strukturen. Davon profitierte die serbisch-orthodoxe Kirche ebenso wie die katholische und muslimische Minderheit. Innerkirchlich führte dieser Prozess zu einer langsamen Beseitigung volksreligiöser Glaubensäußerungen. Immer deutlicher wurden orthodoxer Glaube und nationale Zugehörigkeit (Serbentum) miteinander verflochten. "Der Wandel religiösen Lebens der Orthodoxen der Herzegowina zwischen 1878 und 1918 zeigt anschaulich, wie imperiale Religionspolitik, eparchiale Kirchenreformen als auch politisierte städtische Laien mit oft gegensätzlichen Intentionen einen starken Ausbau von Kirchenstrukturen bedingten." (547) Der Erste Weltkrieg zerstörte diese Grundlagen.
Heiner Grunerts Studie zeigt auf der einen Seite, wie wenig verchristlicht der religiöse Alltag orthodoxer Gläubiger noch am Ende des 19. Jahrhunderts war. Andererseits wird im Zusammenspiel von Kirche und Staat deutlich, dass gesellschaftliche Reformen in relativ kurzer Zeit zu strukturellen Veränderungen führen konnten, allerdings um den Preis eines größer werdenden Antagonismus.
Joachim Schmiedl