Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550-1850. Konfessionalisierung - Aufklärung - Pluralisierung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 2 Bde., XXIII + 1485 S., ISBN 978-3-506-77980-9, EUR 168,00
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Die Konfessionalisierungsforschung ist tot, es lebe die Konfessionalisierungsforschung! Fast vierzig Jahre nach der Erfindung des Konfessionalisierungskonzeptes, nachdem es in unzähligen Einzelstudien heuristisch fruchtbar angewandt und in ähnlich vielen Arbeiten heftigster Kritik unterzogen wurde, sodass es zuletzt als eigentlich überwunden gelten musste, hat nun der Tübinger katholische Kirchenhistoriker Andreas Holzem etwas getan, was zuvor niemand geleistet hat (auch die Erfinder des Paradigmas nicht!): In einer monumentalen, knapp 1500 Seiten starken, zweibändigen Monografie hat Holzem erstmals in konsequent transkonfessioneller Perspektive eine umfassend vergleichende Geschichte der Herausbildung und Ausformung der vormodernen christlichen Konfessionsgesellschaften im Bereich des Alten Reiches und ihrer langfristigen Wirkung bis hinein in die Moderne geschrieben, und zwar beginnend mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 bis zu den revolutionären Bewegungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Holzems Konfessionalisierungsbegriff ist gegenüber dem ursprünglichen Konzept erheblich modifiziert und verfeinert. Aufgenommen wurden nicht nur die vielfach geäußerten Anfragen allgemeinhistorischer Provenienz, sondern auch eigene wissenstheoretische und genuin theologisch-kirchengeschichtliche Erwägungen haben das hier verwendete analytische Instrumentarium wesentlich sensibilisiert und präzisiert. So werden etatistische Verengungen und vermeintlich notwendige entwicklungsgeschichtliche Einlinigkeitskonstruktionen auf die Moderne hin vermieden, weil alles auch ganz anders hätte kommen können. Anstatt rein obrigkeitlicher top-down-Disziplinierung werden komplexe Prozesse schichtenübergreifender Aushandlung, kreativer Aneignung und Motive der Selbstkonfessionalisierung beschrieben. Vor allem jedoch erscheint hier Religion nicht primär funktionalistisch im Dienst staatlicher Verdichtung, sondern wird selbst als geschichtsmächtige Kraft verstanden, die nicht nur zu erfahrungsgenerierenden, spirituellen Intensivierungen führt, sondern auch gesellschaftliche Wandlungsdynamiken anstößt. Und immer wieder arbeitet sich Holzem an der Frage ab, wie es bei all den in den Konfessionen formal anlog ablaufenden Verfahren (nämlich den bekannten modernisierenden Strukturprozessen der Normierung der Lebensformen, der Professionalisierung der religiösen Multiplikatoren, der kirchlichen Bildungsintensivierung etc.) gleichzeitig zu solch unterschiedlichen mentalen und religionspraktischen konfessionellen Eigenheiten kommen konnte - also zu dem, was man jüngst und durchaus in Abkehr von der gängigen Konfessionalisierungsforschung als je spezifische "Konfessionskultur" bezeichnet. Zu den historiografischen Glanzlichtern des weitläufigen, über große Strecken handbuchartigen Textes gehören insbesondere jene Passagen, wo Holzem diese identitätsbestimmenden Proprien konfessioneller Kultur mit einem Höchstmaß religionsphänomenologischer Einfühlung und unter Vermeidung jeglicher Einseitigkeit und anachronistischer Wertung beschreibt.
Genetisch werden die konfessionellen Spezifika für den Bereich des Katholizismus recht stark auf die Dekrete des Konzils von Trient zurückgeführt, die Holzem als doktrinäres Fundament katholischer Konfessionalisierung auffasst. Hier würde eine neuere Trientforschung wohl stärker differenzieren zwischen dem faktischen Tridentinum, dessen lehrhafte Ambiguität und Offenheit weniger geeignet war, um homogene Konfessionskulturen zu begründen, und den posttridentinischen Reinterpretationen Trients bzw. der Konstruktion eines "Mythos Trient", auf dem sich dann wesentlich besser geschlossen antiprotestantische Konfessionsidentitäten errichten ließen.
Aber jenseits all dieser ungeheuren Anstrengungen, die hier zur Weiterentwicklung des Verständnisses der vormodernen Konfessionalisierung des 16. und 17. Jahrhunderts unternommen werden, zeigt schon die Anlage des Buches, sein zeitliches Ausgreifen auf den Pietismus und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und insbesondere über die Sattelzeit der revolutionären Umbrüche hinaus bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass es Holzem noch um etwas anderes geht: Nämlich um den Nachweis, dass auch am Beginn der Moderne, in der sich die Konfessionen weiter intern pluralisierten und jeweils fundamental verschiedene Verhältnisse zum modernen Staat einnahmen, auf die in der Vormoderne ausgebildeten konfessionellen Identitäten nach wie vor zurückgegriffen wurde. Holzem muss deswegen für das 19. Jahrhundert weder den Begriff einer "zweiten Konfessionalisierung" bemühen, noch veranschlagt er dort einen späten, erstmalig durchgreifenden Erfolg von Konfessionalisierung, wie inzwischen viele andere das tun. Vielmehr erblickt er die ungebrochene Kontinuität eines langen Zeitalters der Konfessionalisierung von 1550 bis 1850, das freilich unterschiedliche Phasen und Adaptationen an die Bedingungen der Zeit durchläuft. So interpretiert Holzem etwa den Pietismus und die Aufklärung als Etappen bzw. Varianten von Konfessionalisierung, in denen bestimmte Anliegen der Konfessionen endlich erfüllt oder überboten werden sollten.
Um solche Kontinuitäten stark zu machen, muss man diachrone Absetzbewegungen in der Geschichte einer Konfession, beispielsweise die Kritik katholischer Aufklärer an barocken Frömmigkeitsformen, als Oberflächenphänomene, als Austausch lediglich von "kulturellen Codes" ansehen. Was sich durchhält ist jener konfessionsparallele, formale Prozess der Bestrebung religiöser Intensivierung und Reform. Hier ließen sich aus der Sicht einer noch entschiedener kulturwissenschaftlich arbeitenden Kirchengeschichte durchaus andere Modelle entwerfen, etwa (im Blick auf praktizierte Repräsentationsvorstellungen und Symbolverständnisse) bestimmte, immer wiederkehrende epochale Konjunkturen von ritueller Performanz und eher ritualkritisch-ikonoklastische Phasen - und zwar durchaus innerhalb der Geschichte ein und derselben Konfession.
Insgesamt ist dem Autor eines solchen opus magnum größter Respekt und Bewunderung zu zollen. Wann hat ein einzelner katholischer Kirchenhistoriker zum letzten Mal ein solches Unterfangen gewagt? Vielleicht der Lehrer des Autors, Arnold Angenendt, mit seiner "Geschichte der Religiosität im Mittelalter". Andreas Holzem kommt jedenfalls das Verdienst zu, erstmalig eine transkonfessionell angelegte, theoretisch geleitete und hoch reflektierte Christentumsgeschichte in Deutschland über drei Jahrhunderte hinweg geschrieben zu haben. Also endlich einmal die Leistung eines Katholiken, die bislang ohne Parallele bei den Protestanten ist!
Günther Wassilowsky