Julia Spohr: In Haft bei der Staatssicherheit. Das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen 1951-1989 (= Analysen und Dokumente; Bd. 44), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 430 S., ISBN 978-3-525-35120-8, EUR 34,99
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Mit dem Buch von Julia Spohr liegt die erste Monographie über die Geschichte des Untersuchungsgefängnisses des MfS in Berlin-Hohenschönhausen (UHA I) vor. Wichtigste Quellengrundlage der Dissertation bildet die archivalische Hinterlassenschaft des MfS beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) und hier insbesondere die Sachakten der ehemals in der UHA I tätigen Hauptabteilung IX (HA IX) und der Abteilung XIV (Abt. XIV) sowie diverse an der Juristischen Hochschule Potsdam-Eiche entstandenen Diplomarbeiten und Dissertationen. Außerdem will die Autorin die Untersuchungsakten von 470 Insassen der UHA I "ausgewertet" haben. Wenn man berücksichtigt, dass jeder Untersuchungsvorgang durchschnittlich mindestens drei bis vier Bände umfasst, so würde allein die Sichtung dieses Aktenberges bei einem ganzwöchentlichen Archivbesuch ohne Pause weit über ein Jahr in Anspruch nehmen. Eine Begründung für ihr Sample liefert Julia Spohr nicht. Aus der Sicht des Rezensenten ist diese Stichprobe zu klein, um das Phänomen Untersuchungshaft und die Heterogenität der Häftlingsgemeinschaft in der UHA I in der historischen Entwicklung differenziert darzustellen.
Die Perspektive der ehemaligen Gefangenen auf die Untersuchungshaft hat sich die Autorin weitestgehend durch deren "Ego-Dokumente" (Haftberichte und Interviews) im Zeitzeugenbüro der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen erschlossen. Unerwähnt lässt sie dagegen die Nutzung weiterer aufbereiteter Material- und Quellensammlungen am gleichen Ort. Diese Intransparenz bezieht sich insbesondere auf diverse Excel-Listen und Datenbanken, ohne die eine Erstellung der von Spohr dargebotenen Statistiken und quantitativen Auswertungen nicht möglich gewesen wären. In nur geringem Maße sind bereits publizierte Selbstreflexionen ehemaliger Gefangener in die Studie eingeflossen. Unübersehbar sind gleichfalls die Fehlstellen bei der Rezeption der Forschungsliteratur. Zu den ignorierten Werken gehören beispielsweise alle biographischen Studien über den Stasi-Chef Erich Mielke.
Spohrs Studie gliedert sich in vier Kapitel. Einleitend referiert sie die Entwicklung der normativen Grundlagen des Untersuchungshaftvollzugs und der strafrechtlichen Ermittlungstätigkeit beim MfS. Weiterhin gibt sie hier einen Überblick über die Struktur und das Leitungspersonal der HA IX und der Abt. XIV in Berlin-Hohenschönhausen. Sehr lückenhaft sind die Ausführungen über das zentrale Untersuchungshaftwesen des MfS. Die für die beiden ersten Jahre der Stasi-Geschichte relevante Vorgängereinrichtung der UHA I in der Albrechtstraße 26 in Berlin-Mitte wird mit keinem Wort gewürdigt. Nahezu peinlich mutet der Umstand an, dass für den Betrieb des Gefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen falsche Eckdaten genannt werden.
Im zweiten Teil untersucht die Autorin im Kontext mit der Ausgestaltung der Strafgesetzgebung und den entsprechenden Regularien in der DDR, welche Tatvorwürfe am zentralen Haftort des MfS im Fokus der Ermittler standen. Auf der Grundlage der gesichteten AU-Vorgänge liefert sie zur Illustration der einzelnen Straftatkomplexe ("Republikflucht", "Hetze", "Sabotage" "Antragsteller" usw.) und Tätergruppen (MfS-Angehörige) zum Teil bisher unveröffentlichte Fallbeispiele von Verfolgungsbiographien. Im Vergleich mit der Zahl aller in der UHA I durchgeführten Untersuchungsverfahren sind hier die sogenannten NS-Verbrechen überproportional vertreten. Dagegen erscheint der Anteil der tatsächlichen Spionagestraftaten marginalisiert. Offensichtlich hat die Autorin deren Signifikanz für die gesamte Tätigkeit und das Selbstverständnis der HA IX nicht erkannt.
Des Weiteren liefert Spohr quantitative Angaben und Analyseergebnisse zum Häftlingsbestand der UHA I. Ihre Explorationen beziehen sich u.a. auf die jährliche Belegungsstärke, auf die Altersstruktur der Gefängnisinsassen und die Geschlechterverteilung. Die Bewertung, Erläuterung und Kommentierung der ermittelten Daten enthalten jedoch eine Reihe von Fehlinterpretationen und Lücken. Besonders problematisch sind die Erhebungen zum zeitlichen Rahmen der Haftdauer. Die Quellenbasis zu diesem Sachverhalt ist zu disparat und lückenhaft, um realistische Ergebnissen zu erhalten.
Mit der Schilderung der Haftbedingungen und des Haftalltags sowie der Ermittlungsmethoden setzt sich Spohr im drittel Kapitel mit der konkreten Repressionspraxis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen auseinander. Dabei konnte sie in nicht unerheblichem Maße auf die im Internet veröffentlichten Materialien eines Dokumentationsprojekts der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zurückgreifen, an dem sie 2008/2009 als Mitautorin beteiligt war. Der fachkundige Leser trifft auch in diesem Buchabschnitt überwiegend auf bereits bekannte Fakten. Einzelne Aspekte werden zudem recht oberflächlich behandelt. Das betrifft hinsichtlich der Situation in den 1950er Jahren auch die nicht selten durchgeführten Nachtvernehmungen und den systematischen Schlafentzug. Desgleichen thematisiert Spohr die in Literatur und Zeitzeugeninterviews beschriebenen Folterpraktiken und Misshandlungsvorfälle nicht angemessen und hinterfragt beispielsweise auch das Zustandekommen von Selbstbezichtigungen von "gestandenen" Antikommunisten in Schauprozessen nicht. Auffällig ist auch, dass die untersuchten Sachverhalte mitunter nicht in ihrer historischen Entwicklung betrachtet werden.
Der vierte Teil der Monographie widmet sich der spezifischen Stellung der HA IX im Verfolgungssystem der DDR. Hier untersucht die Autorin den Einfluss der zentralen Vernehmerabteilung auf die alltägliche juristische Verfahrenspraxis sowie auf die stetige Ausgestaltung und Modifizierung der politischen Strafrechtsnormen. Nicht in jedem Fall können ihre dargebotenen Argumentationen überzeugen. So ist bereits die den Abschnitt einleitende Behauptung, dass im MfS nur die Bediensteten des Untersuchungshaftvollzugs direkten Kontakt zum "Feind" hatten, unzutreffend.
Was das "Gegnerbild" des MfS betrifft, geht sie überwiegend von einem haltlosen Konstrukt aus. Mit welcher Relevanz der Konflikt der sich antagonistisch gegenüberstehenden politischen Staatenbündnisse insbesondere auch während des "Kalten Krieges" das Feindbild von SED und MfS prägte, hält sie nicht für diskussionswürdig. Geradezu abstrus ist Spohrs despektierliche Charakterisierung der politischen MfS-Häftlinge. Nach ihrer Einschätzung, die sich auf ein völlig aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat von Milovan Djilas bezieht, seien sie mehrheitlich keine Gegner des "Sozialismus" im eigentlichen Sinne gewesen und hätten lediglich die für seine Errichtung angewandten Methoden abgelehnt. Wichtig sind die Darlegungen über die Beteiligung der HA IX an den Normenänderungen im Bereich des politischen Strafrechts seit etwa 1955/56. Hier fehlt jedoch der Hinweis auf die anderen Entscheidungsträger und beteiligten Strukturen - Justizministerium, Innenministerium, Generalstaatsanwaltschaft und zentraler SED-Parteiapparat. So bleibt letztlich ungeklärt, welche Rolle die HA IX bei der "Gesetzgebung" spielte und wer im Detail konkret die Initiative für die Strafrechtsnovellierungen ergriff.
Im letzten Teil ihres Buches setzt sich die Autorin mit der Frage auseinander, ob die HA IX auf die Urteilsfindung und -höhe in politischen Prozessen konkret eingewirkt hat. Da sie bei ihren eigenen Aktenstudien keine Belege für die Forderung nach einem hohen Strafmaß oder andere Vorgaben des MfS gefunden hat, zieht sie den recht diffusen Schluss, dass mit Ausnahme der 1950er Jahre der direkte Einfluss der HA IX auf das gerichtsförmige Verfahren "in der Regel jedoch marginal" geblieben sei. Dabei hat der DDR-Staatssicherheitsdienst sehr wohl auf die strafrechtliche Verfolgung und die Sanktionierung unmittelbar Einfluss genommen. Aus "operativ-taktischen" Erwägungen oder übergeordneten "sicherheitspolitischen" Aspekten beantragte die HA IX bei den zuständigen Staatsanwaltschaften die Niederschlagung von Verfahren oder befürwortete milde Urteile. In anderen Fällen, zumeist bei Ausländern, kam es auf Betreiben der SED und/oder des MfS statt zu einem Gerichtsverfahren zu Abschiebungen oder zur Übergabe an "befreundete" Dienste. Zudem trat die Vernehmerabteilung in Einzelfällen für eine zeitnahe nachträgliche Strafmilderung in Form einer bedingten Strafaussetzung ein.
Leider ist Spohrs Arbeit mit gravierenden handwerklichen Mängeln und Unzulänglichkeiten behaftet. Kritikwürdig ist der distanzlose Umgang mit den Primärquellen, die ungenügende Rezeption der wissenschaftlichen Fachpublikationen und in Einzelfällen ebenfalls die Fußnotensetzung. Die Autorin versucht leider nicht einmal ansatzweise, die verschiedenen Quellengruppen bezüglich ihrer Objektivität, Relevanz und ihres Informationsgehalts zu hinterfragen. Dabei ist eine fachkundige Begutachtung insbesondere bei den idealisierten und realitätsfernen Abschlussarbeiten der Juristischen Hochschule in Potsdam-Eiche, aber auch bei den teilweise emotionsgeladenen, lückenhaften und verzerrten Reflexionen der Zeitzeugen unerlässliche Vorabbedingung für den Erhalt valider Aussagen. Spohr verortet sich nur punktuell im aktuellen Forschungsstand und gleicht nicht immer ihre Rechercheergebnisse mit den zitierten Abhandlungen ab. Maßgebliche Studien werden ignoriert oder nicht gebührend gewürdigt. In diesem Kontext erschließt sich auch nicht, warum bekannte Fakten ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn in aller Ausführlichkeit nochmals auf archivalischer Grundlage dargelegt werden. Der Fußnotenapparat weist einige Merkwürdigkeiten auf. Dazu gehört, dass nebensächliche Sachverhalte mit einer auffälligen Vielzahl von Literaturhinweisen belegt und selbst gängige Fremdwörter, wie der Begriff "kafkaesk", in einer Marginalie erläutert werden. Dagegen bleiben relevante Zahlenangaben zu den "NS-Untersuchungsfällen" sowie zu den Suiziden und Todesfällen am Haftort Berlin-Hohenschönhausen gänzlich ohne Quellennachweis.
Die wissenschaftliche Monographie von Spohr ist nur bedingt gelungen. Es wäre wünschenswert, wenn die vorgetragenen Kritikpunkte zur weiteren umfassenden Erforschung der UHA I und der dort tätig gewesenen MfS-Abteilungen beitragen würden.
Peter Erler