Robert Żurek: Die katholische Kirche Polens und die "Wiedergewonnenen Gebiete" 1945-1948 (= Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen; 12), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014, 2 Bde., 855 S., ISBN 978-3-631-64622-9, EUR 99,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Geschichtswissenschaft sollte hauptsächlich dazu dienen, die "Menschen in der Zeit" (Marc Bloch) zu verstehen und nicht nur Opfer zu würdigen. Diesem historiografischen Imperativ folgt Robert Żurek mit seinem neuen Werk. Sein Buch fokussiert in komplexer Weise die Situation der katholischen Kirche Polens nach 1945 in den neuen polnischen West- und ehemaligen deutschen Ostgebieten. In seiner Darstellung geraten die Kirchenakteure sowie ihre Handlungsräume und -möglichkeiten unmittelbar nach dem Krieg, also nach einer Phase existenzieller Gewalterfahrungen und unter katastrophalen materiellen und kommunikativen Bedingungen, in den Blick. Dabei rekonstruiert er die Vorgänge, die zur Installierung einer neuen Kirchenstruktur unter polnischen Vorzeichen führten.
In sechs chronologisch gegliederten Kapiteln verfolgt Żurek die Rolle der katholischen Kirche Polens. Als Ausgangspunkt und das Forschungsinteresse bestimmendes Movens dient die Frage: Verhielt sie sich als Profiteurin der durch das Potsdamer Abkommen verursachten Westverschiebung Polens und diente sie sich dem kommunistischen Regime sogar so weit an, dass sie die Praktiken der Vertreibung und Verfolgung der Deutschen unterstützte oder zumindest wohlwollend akzeptierte? Aus dieser Perspektive betrachtet ein Teil der deutschen Historiografie weiterhin das Agieren der katholischen Kirche Polens nach 1945, nicht ohne es zu kritisieren. Allerdings räumen auch polnische Historiker ein, dass die katholische Kirche sich hier nutznießerisch betätigte. In der Historiografie herrscht demzufolge das Bild einer für kurze Zeit besonderen Allianz zwischen Kirche und Regierung hinsichtlich der neuen Gebiete vor, die erst 1950/51 mit der offen zu Tage tretenden kirchenfeindlichen Haltung des kommunistischen Regimes zerbrach. Nach dieser Lesart habe sich die katholische Kirche Polens auch in Person des Primas August Hlond aktiv an der Aneignung der neuen Gebiete beteiligt.
Żureks Studie hinterfragt diese links und rechts der Oder gängigen Sichtweisen und Interpretationen. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass man in Bezug auf Primas Hlond keineswegs von einem nationalistischen, machtgetriebenen Kirchenoberhaupt sprechen könne, der alles versuchte, um die Deutschen aus den neuen Gebieten zu verdrängen und diese in seinen Kirchenbereich zu integrieren. Genauso wenig könne man bei der Schlussfolgerung bleiben, die polnischen Geistlichen, also die Apostolischen Administratoren für die fünf Diözesen, hätten alles daran gesetzt, die Deutschen aus ihren Amtsbereichen zu verdrängen. Żurek bilanziert ganz im Gegenteil, dass sowohl Hlond als auch die polnischen Administratoren um gute Beziehungen zu ihren deutschen Amtskollegen bemüht gewesen seien, sie teilweise sogar vor dem kommunistischen Regime in Schutz genommen und sie, solange es ging, in die aktiven Kirchenstrukturen einbezogen hätten.
Aus der Vielzahl an Problemsträngen soll ein für das Werk relevanter Zusammenhang herausgegriffen werden, der dem Rezensenten für die weitere Forschungsdebatte wichtig erscheint. In einer quellenkritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Historiografie bewertet Żurek die Rolle des Vatikans zu Zeiten Papst Pius XII. und Hlonds gänzlich neu. Dazu legt er minutiös alle Spuren zum Rom-Aufenthalt Hlonds zwischen April und Juli 1945 und auch zu den Geschehnissen noch im Sommer desselben Jahres frei, als Hlond die deutschen Amtsträger in den betreffenden Gebieten durch polnische ersetzte.
Żureks Arbeit sind eine Vielzahl einschlägiger Studien vorausgegangen. Wie er selbst schreibt, wurde ein Großteil der Werke auf deutscher Seite entweder von Betroffenen oder von Personen, die keine Historiker waren, verfasst. Żurek kann nun deutlich zeigen, wie wenig belastbar die Indizien sind, auf die diese Autoren ihre Interpretation der damaligen Geschehnisse aufbauten. Überzeugend belegt er, dass ältere Publikationen teils Fehlinformationen aufsaßen, teils solche bewusst in politischer Absicht streuten, die dann wiederum die Historiografie prägten.
So gelingt es ihm anhand der Einsetzung polnischer Apostolischer Administratoren durch Hlond zu zeigen, dass dieser keineswegs ein nationalistischer, machtbesessener, deutschenfeindlicher Kleriker war, der gegen die Absichten und Vollmachten des Vatikans eine polnische Kirchenstruktur in den polnischen Westgebieten aufbaute. Im Gegenteil, mit Żurek ist davon auszugehen, dass Pius XII. und sein Staatssekretär Domenico Tardini Hlond explizit so beauftragt haben. Er belegt dies, indem er die damaligen Gespräche zwischen dem Papst, Tardini und Hlond anhand des Schriftverkehrs, von Erinnerungen und offiziellen Verlautbarungen rekonstruiert sowie unklare Stellungnahmen des Papstes im Anschluss daran und Querverbindungen zu ähnlich gelagerten Fällen miteinbezieht. Hintergrund sei eine kirchenpolitische Strategie des Vatikans gewesen, sich für die zu erwartende kirchenpolitische Offensive des kommunistischen Regimes zu wappnen. Vor allem in den Teilen der neuen West- und Nordgebiete, die durch das Potsdamer Abkommen keinerlei gefestigte kirchliche Strukturen besaßen, sollte die katholische Kirche für diese Auseinandersetzung mit den nötigen kirchenrechtlichen Mitteln ausgestattet werden. Der Vatikan, so Żureks Argument, habe - gestützt auf die Erfahrungen mit der sowjetischen Kirchenpolitik - gewusst, was auf sie zukomme. Gleichzeitig habe der Vatikan die informationspolitisch schwierige Lage in jenen Gebieten berücksichtigen müssen. Es fehlte an verlässlichen Kommunikationsstrukturen, um Anordnungen aus dem Vatikan durchzusetzen. Das ansonsten übliche direkte Einsetzen und Ernennen von Kirchenfunktionären durch den Vatikan sei also zu jenem Zeitpunkt doppelt störanfällig gewesen: zum einen durch die drohende kommunistische Herrschaft und zum anderen durch die nicht bis nach Polen reichende Kirchenhierarchie. Das weitere Vorgehen Hlonds in den neuen polnischen Gebieten müsse, so Żurek, aus diesem größeren kirchenpolitischen Blickwinkel betrachtet werden.
Damit ordnet der Verfasser die Aktivität der katholischen Kirche Polens in einen Staat-Kirche-Konflikt ein. Bei der Einsetzung polnischer Administratoren und anderer Geistlicher oder bei der Behandlung der verbleibenden deutschen Geistlichen und Laien sei es keineswegs um ein Problem national eingestellter polnischer Kirchenleute gegangen, sondern um die Positionierung der katholischen Kirche in einem zukünftigen, langwierigen Konflikt mit dem kommunistischen Staat, den der Vatikan und Hlond bereits im Sommer 1945 antizipiert hätten. Demzufolge seien auch die Aktivitäten seitens der polnischen Geistlichen gegenüber ihren deutschen Amtsbrüdern nicht aus nationalpolitisch motivierter Rache geschehen, sondern einer Logik gefolgt, die das Überleben der Kirche unter einem kirchenfeindlichen Regime garantieren sollte.
Allerdings drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, wieso der Vatikan davon überzeugt war, dass sich das kommunistische Regime in Polen durchsetzen würde. Zum Zeitpunkt der Absprachen zwischen Hlond und Pius XII., also im Frühsommer 1945, konnte dies noch niemand wissen. Etwa zur gleichen Zeit verhandelten die Alliierten in Potsdam über die Nachkriegsordnung. Danach dauerte es noch Jahre, bis sich die Kommunisten in Polen durchsetzten. Diese Frage vermag Żurek nicht zu beantworten; seine Erklärung, weshalb der Vatikan diese Position gehabt haben soll, erscheint zwar plausibel, lässt sich aber nicht belegen.
Żurek liefert mit diesem Buch eine minutiöse Darstellung der kirchenpolitischen Ereignisse zwischen 1945 und 1947 in den neuen polnischen Gebieten. Seine Schilderungen sind bisweilen so detailliert, dass man sich in den zahlreichen Daten, Personen, Ereignissen und den dazugehörigen Reflexionen in Fließtext und Fußnoten verliert. Aufgrund der Komplexität seiner Argumentation ist der Verfasser gezwungen, immer wieder Querverweise anzubringen. Dies geschieht vor allem im ersten Teilband häufiger ohne eine genaue Seitenangabe. Bei einem Buch mit über 800 Seiten hindert dies den Leser daran, Żureks umfassende und anspruchsvolle Argumentation besser nachzuvollziehen. Auch würde einem so gehaltvollen Buch ein Personen- und Sachregister gut tun.
Andererseits schafft Żurek durch diese Detailliertheit seiner Darstellung ein sehr plastisches, authentisches Bild, eine dichte Beschreibung der historischen Subjekte, die dem Leser die Protagonisten in ihrer Zeit erklärt. Żurek überzeugt über weite Strecken mit seiner quellenkritischen Untersuchung und kann die Forschung zur Rolle der katholischen Kirche in Polen in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in ein ganz neues Licht stellen.
Jonas Grygier