Peter Wolf / Margot Hamm / Barbara Kink u.a. (Hgg.): Götterdämmerung. König Ludwig II. von Bayern und seine Zeit (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur; 59 + 60), Darmstadt: Primus Verlag 2011, 2 Bde., 568 S., ca. 300 Farbabb., ISBN 978-3-89678-739-2, EUR 39,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Daniel Menning: Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840-1945, München: Oldenbourg 2014
Christoph Jahr: Paul Nathan. Publizist, Politiker und Philanthrop 1857-1927, Göttingen: Wallstein 2018
Heinz Häfner: Ein König wird beseitigt. Ludwig II. von Bayern, München: C.H.Beck 2008
Hermann Rumschöttel: Ludwig II. von Bayern, München: C.H.Beck 2011
Christine Tauber: Ludwig II. Das phantastische Leben des Königs von Bayern, München: C.H.Beck 2013
Kein deutscher Monarch der Moderne hat einen vergleichbar legendären Ruhm erlangt wie der als 'Märchenkönig' apotheotisch überhöhte Ludwig II. von Bayern. Viele Regalmeter lassen sich mit Literatur jeder Art über diese tragische Figur aus dem Hause Wittelsbach füllen. Die ungebrochene Faszination für Ludwig, sein Leben und sein Wirken bot den Anlass, 2011 auf Schloss Herrenchiemsee im Rahmen der Bayrischen Landesausstellung dem "Phänomen Ludwig II." nachzuspüren. Der Ort war gut gewählt, darf er doch gleichsam symbolhaft verstanden werden: die opulente Fassade, das historische Zitat, jedoch ein Torso und fragmentierter Verweis auf die zersplitterte Persönlichkeit des Bauherrn. In den nach dem Tod des Königs im Rohbau belassenen Räumen wurde mit großem multimedialem Aufwand die Ausstellung installiert, die von rund 570.000 Menschen besucht wurde. Der Theatralik seines Lebens angemessen gliederte sich die Ausstellung in fünf Akte, von der Kronprinzenzeit bis zum Tod und der Entstehung des modernen Mythos. Dabei vermieden es die Ausstellungsmacher, sich dem zum Scheitern verurteilten Versuch hinzugeben, Ludwigs Schicksal einer einfachen und abschließenden Deutung zu unterwerfen. Vielmehr sollte durch eine facettenreiche und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erfolgende Beleuchtung die Komplexität des Themas verdeutlicht werden. Diesem Ansatz folgt auch das die Ausstellung begleitende zweibändige Katalogwerk, das im ersten Band den eigentlichen Ausstellungskatalog liefert, im zweiten einen abwechslungsreichen Aufsatzreigen versammelt. Beide Bände sind hervorragend erarbeitet und lohnen die Lektüre.
Diese Rezension befasst sich nun hauptsächlich mit dem Aufsatzband, dessen Beiträge in vier Themenbereiche gegliedert sind. Die Fülle der insgesamt sehr lesenswerten Essays verhindert eine eingehende Darstellung jedes einzelnen. Im Folgenden habe ich daher die Texte herausgegriffen, die mein größtes Interesse geweckt haben.
In "Der König und sein Land" werden verschiedene Aspekte der königlichen Machtausübung, -demonstration und -inszenierung untersucht. Außerdem widmen sich mehrere Autoren dem Ende der Regierungszeit Ludwigs und seiner Absetzung aufgrund der bekannten psychiatrischen Implikationen. Martin Kohlrausch setzt sich dabei mit der medialen Repräsentation moderner Monarchen auseinander, indem er die massenmediale Berichterstattung und Inszenierung von König Ludwig II. und Kaiser Wilhelm II. vergleicht.
In der Rubrik "Politik, Gesellschaft und Wirtschaft" betrachtet Otto Feldbauer die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Baues von Schloss Herrenchiemsee auf den Chiemgau. Aufschlussreich sind die Darstellungen, dass vor allem Münchener Unternehmer mit der Umsetzung der königlichen Pläne beauftragt worden sind und dadurch von dem Projekt profitierten. Nachhaltiger war freilich die spätere touristische Anziehungskraft des Schlosses. Erhellend auch die Beschäftigung von Karl Borromäus Murr mit der Entstehung, Verbreitung und Funktion der bis heute wirkmächtigen Klischeebilder einer vermeintlich bayerischen Volkskultur.
In "Kunst und Kultur" sind Aufsätze versammelt, die sich mit Ludwigs Baukultur, Selbstwahrnehmung und -darstellung als Herrscher sowie seiner Beziehung zu Richard Wagner beschäftigen. Johannes Erichsen untersucht anhand von vier Beispielen wie der Münchener Residenz die Restaurierung historischer Baudenkmäler und die daraus ableitbare Haltung des Königs zum architektonischen Erbe der Wittelsbacher und - im Falle der Bayreuther Eremitage - der Hohenzollern. Bemerkenswert und neu ist dabei die Erkenntnis, dass Schloss Neuschwanstein zunächst als Restaurierungsvorhaben der alten Burg Hohenschwangau begonnen wurde und nicht als steinerne Realisierung Wagnerscher Opernmotive.
Den Blick über die Grenzen Bayerns hinaus richtet Hans Ottomeyer in seinem Beitrag. Ludwigs Schlossbauten erfahren darin eine europäische Kontextualisierung. Während sich Dynastien wie die Habsburger oder Familien wie die Rothschilds ambitionierte Architekturen als Legitimation ihrer Herrschaft oder Anciennität errichten ließen, sind die Schlösser des bayrischen Königs vielmehr als Gedankengebäude zu verstehen. Daran anknüpfend beschäftigt sich Alexander Rauch mit dem Symbolismus von Ludwigs Schlössern, um das gern geglaubte Bild vom "Märchenkönig" ikonologisch zu konterkarieren. Die vom König nicht nur initiierten, sondern bis ins Detail begleiteten und bestimmten Bauprojekte sind demnach trotz ihres augenscheinlichen Historismus keine typischen Vertreter dieser Stilepoche, da sie nicht auf ein öffentliches Publikum wirken sollten. Der Schlüssel zu ihrem Verständnis liegt dem Autor zufolge in der Auseinandersetzung mit der nach außen gänzlich abgeschlossenen, intelligiblen Selbstinszenierung des Monarchen. Erhellend ist die Darstellung des Briefwechsels von Ludwig II. mit Richard Wagner und Cosima von Bülow durch Martha Schad als Dokumentation einer außergewöhnlichen Freundschaft. Mit Wagner beschäftigt sich auch Sven Oliver Müller, indem er der aufschlussreichen Frage nach dem sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts signifikant verändernden Publikumsverhalten bei musikalischen Aufführungen nachgeht. Es ist das durch Wagners Musikdramen kodifizierte Schweigen des Publikums als bildungsbürgerliches Verhaltensmuster. Caroline Sternberg betrachtet die Veränderungen des Herrscherbildes durch die Fotografie als Massenmedium.
Der Aufsatzband schließt mit dem Kapitel "Nachleben und Mythos". Darin wird untersucht, wie Ludwig II. unmittelbar nach seinem allenthalben als tragisch bewerteten Tod zur Rezeptionsfigur in der Literatur und später im Film wurde. Damit einhergehend zeigt Marcus Spangenberg die massentouristische Aneignung von Schloss Neuschwanstein und dessen Gerinnung zu einer deutschen Ikone auf. Erinnerungspraktiken als Interdependenz zwischen wissenschaftlich-musealer Aufarbeitung und der Souvenirkultur des breiten Publikums geht Katharina Sykora nach. Damit unterläuft sie wohltuend die gewohnte wie abgenutzte Klassifizierung einer seriösen Hochkultur dort und einer negativ konnotierten Kitschliebe dort. Ebenso aufschlussreich ist der Aufsatz von Rainer Herrn, der die bereits zu Ludwigs Lebzeiten beginnende wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung mit dessen Homosexualität betrachtet. Demnach ging es dabei stets um eine Indienstnahme von Ludwigs Veranlagung, um eigene Absichten zu argumentieren: der Homosexuelle als Kranker, Ludwig als "Prototyp [eines] medizinisch-anthropologischen Konzepts" (245), der König als Leitfigur der frühen Homosexuellenbewegung. Der Reigen schließt mit Michael Petzets Erinnerungen an die von ihm kuratierte erste Ludwig-Ausstellung mit wissenschaftlichem Anspruch im Jahr 1968. Spätestens mit dieser Ausstellung begann die bis heute anhaltende wissenschaftliche Aufarbeitung von historischer Figur, individueller Person und dem 'Mythos' Ludwigs II.
Auch 130 Jahre nach dem Tod des 'Märchenkönigs' hat dieser trotz aller Forschung und populärkulturellen Verwertung nichts von seiner Faszination eingebüßt. Sein Leben, Wirken und Ableben begeistern und verzaubern die Massen, zugleich regen sie die Wissenschaft zu immer neuen Interpretationen und Ergründungsversuchen des "ewigen Räthsels" an, wie sich Ludwig selbst titulierte. Somit behaupten auch der Ausstellungskatalog und der Aufsatzband nicht, hier einen Schlusspunkt zu setzen. Sie sind Beiträge eines erweiterten Zugriffs, indem Ludwig nicht als isolierte Erscheinung, sondern als Anreger zur Analyse und Reflexion über die aufgezeigten, vielfältigen Themen genutzt wird. Davon ausgehend bieten sich der Forschung zahlreiche Ansätze, die von dem bayrischen Monarchen als Person letztlich wegführen, dafür das Verständnis sowohl seiner Epoche als auch der bis heute wirkmächtigen Verarbeitungsstrategien einer historischen Figur erweitern.
Christian Lechelt