Gunda Hinrichs: Der Blick ins Innere. Ikonologische Wege zu einer psychoanalytischen Kulturtheorie. Kulturanthropologische Grundlagen einer Theorie des Symbols, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, 248 S., 27 Farb- und s/w-Abb., ISBN 978-3-8260-5701-4, EUR 39,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Ikonografie und Psychoanalyse stehen seit über einem Jahrhundert in einem engen Zusammenhang, handelt es sich doch bei beiden um "Entzifferungstechniken". [1] So folgen sie beide in ihrer grundlegenden Gestalt der Logik x steht für y, was allererst die Grundlage für Interpretationsvorgänge darstellt. Etwas wird auf der phänomenalen Oberfläche (das Bild, der Traum) sichtbar, verweist jedoch auf etwas anderes, das sich in einem - zumindest unmittelbar - unzugänglichen Raum befindet und durch heuristische Methoden sichtbar gemacht wird. Darin liegt die für beide Theorien grundlegende Hermeneutik: Sie verfolgen die Strategie, vom sinnlich Wahrnehmbaren auf ein sinnlich Unverfügbares zu schließen.
Gunda Hinrichs verfolgt in ihrer Studie Der Blick ins Innere diesen Zusammenhang. Das Ziel ihrer Monografie ist es, eine Symboltheorie zu schreiben, die sich psychoanalytischer Theorieelemente bedient und selbst Verfahren der Psychoanalyse anwendet. Die eigentliche Besonderheit von Hinrichs Buch ist weniger die vollzogene Theoriebildung, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie diese Theorie performativ realisiert. Sie zeigt dabei keine Angst, die konventionellen Grenzen der Wissenschaftlichkeit zu überschreiten, und bedient sich dem Methodenkoffer der Psychoanalyse Freudscher Provenienz, etwa wenn sie die Technik des Analogieschlusses anwendet. Diese qualifiziert sie selbst als "wissenschaftlich unseriöses Verfahren" (70), schreckt aber vor deren Gebrauch keineswegs zurück.
Dass Hinrichs hier ein doppeltes Ziel verfolgt, zeigt auch der zweifache Untertitel: Ikonologische Wege zu einer psychoanalytischen Kulturtheorie - Kulturanthropologische Grundlagen einer Theorie des Symbols. Diese etwas sperrige Beschreibung soll verdeutlichen, dass es sich um ein gegenseitiges Erleuchten von Psychoanalyse und Symbol-, Bild- und (im weiteren Sinn) Kulturtheorie handelt.
Die Kreuzung von Psychoanalyse und Ikonografie erweist sich etwa im Begriff der "Tiefenhermeneutik" (7), mit dem Hinrichs arbeitet. Er zeigt an, dass ein Verfahren des Hebens von Sinnelementen verfolgt wird: Diese liegen nicht an der Oberfläche bereit, vielmehr muss sich der Interpret auf die "Tiefendimension" (ebd.) begeben, um dort Sinn zu finden (oder solchen zuzuschreiben). Fraglich ist, ob hier nicht implizit eine Vermischung von Kategorien in Kauf genommen wird, die das epistemologische Potenzial der ganzen Arbeit in Frage stellen kann: Haben Kunstwerke eine Tiefe - so wie ein Bewusstsein? Oder wird diese Tiefe des Kunstwerks erst nachträglich durch die Aktivität menschlichen Bewusstseins erzeugt? Die erkenntnistheoretische bedeutende Frage, ob Kunstwerken an sich Sinn eignet oder ob Sinn im Rezeptionsprozess zugeschrieben wird, wird in der Untersuchung zumindest explizit nicht diskutiert. Stattdessen macht die Autorin die starke Annahme, Symbole seien "Zeugnisse unbewusster kollektiver Sinnstrukturen" (ebd.) und erteilt damit einem konstruktivistisch gedachten Verständnis von Sinn eine Absage. Die Studie basiert auf der Hypothese, dass es ikonografische Gehalte gibt, deren Substanz auf kulturelles Wissen verweist und daher solche kollektiven Sinnstrukturen verfügbar macht.
Die Autorin verfährt so, dass sie eine kurze theoretische Fundierung ihrer Arbeit anhand der ikonografischen Tradition im Anschluss an Aby Warburg vornimmt. Anschließend entwickelt sie lose zusammenhängende Theorieelemente, die dem Begriffsbestand der Psychoanalyse entlehnt und symboltheoretisch angewendet werden (z.B. Ichbildung, Ambivalenz und Analogieschluss). Unterbrochen werden diese Überlegungen durch Bildinterpretationen, die selbst nicht bloß zur Veranschaulichung, sondern zugleich zur Erweiterung des Theoriebestands der Arbeit dienen sollen. Diese Betrachtungen sind höchstens lose mit den umstehenden Kapiteln verknüpft, sodass man insgesamt zu dem Eindruck gelangt, dass die Arbeit vor allem die produktive Vielfalt psychoanalytisch inspirierter Ikonografie darzustellen versucht und weniger auf die lineare Entwicklung stringenter Argumentationslinien abzielt.
Den Ausgangspunkt nimmt die Studie bei Aby Warburg, der als zentraler Reibungspunkt für die Theorieentwicklung dient, besonders hinsichtlich eines hermeneutischen Zugangs zum Bild- und Symbolverständnis. Diese Überlegungen münden in einem Bekenntnis zur Assoziation als wichtigster Methode der Arbeit. Diese realisiert sich insofern doppelt, als nicht nur hinsichtlich der hermeneutischen Bilddeutung assoziativ vorgegangen wird, sondern auch bei der Aufreihung unterschiedlicher Aspekte der elaborierten Symboltheorie, die nicht als in sich kohärent verstanden werden können. Weiterhin fällt im Fortgang der Studie auf, dass die wesentlichen theoretischen Quellen - namentlich Aby Warburg - weniger durch Primärlektüre, als durch Verweise auf Sekundärstudien erschlossen werden, was vor allem im Fall von Hartmut Böhme augenfällig wird. Anerkennung ringt die Arbeit dagegen an jenen Stellen ab, die deutlich machen, dass auch Wege außerhalb der reinen Wissenschaftlichkeit beschritten werden, etwa wenn die Autorin den zur Anwendung gebrachten Analogieschluss als "ein wissenschaftlich unseriöses Verfahren als Hilfskonstruktion" (70) ausweist. Hinrichs widmet ihre Arbeit nicht allein der Wissenschaft, sondern auch den "Ansprüchen gehobener Unterhaltung" (28), was für hohe Transparenz hinsichtlich der Zielsetzung ihrer Studie sorgt.
Gerade die eingeschobenen Bildbetrachtungen sind für die Arbeit zentral, machen sie doch sichtbar, was der psychoanalytische Methodenkoffer für die Ikonografie zu wirken im Stande ist. Dies geschieht eindrücklich bei der Betrachtung von "Knabe mit Apfel" von Raffael, der ohne ausführliche kunsthistorische Diskussion der Assoziationsmethode unterworfen wird. Nach einer noch insgesamt nachvollziehbaren Darlegung zur Qualität des Blicks im Bild schweifen die Überlegungen zu Konzepten wie Adoleszenz, Wiedergeburt, Allmacht und Beschneidung. Dabei lösen sich die Gedanken immer stärker vom besprochenen Bild, das bald nur noch als Stichwortgeber fungiert, und wenden sich den genannten Aspekten aus psychologischer und ethnologischer Perspektive zu, bis der Bezug der besprochenen Themen nur noch unter größten Anstrengungen mit dem betrachteten Bild in Verbindung gebracht werden kann. Dieses Vorgehen mag wissenschaftlich angreifbar sein, jedoch werden dessen hohe spekulative Anteile als solche ausgestellt. Dies kann jedoch nicht als Begründung für das gebrauchte Vokabular dienen, das Respekt seinem Gegenstand gegenüber eindeutig vermissen lässt. So wird Leonardos Knabe etwa als "halbwüchsige[r] Rotzbengel[ ], der es faustdick hinter den Ohren zu haben scheint" (36) bezeichnet. Dieser Befund ist nicht nur sprachlich nachlässig, sondern auch im Anbetracht des Bildes nur schwer nachzuvollziehen.
Gunda Hinrichs legt mit Der Blick ins Innere ein Buch vor, das vor allem Rezipienten anspricht, die für einen Zugang zu Bildern offen sind, der an Claude Lévi-Strauss' wildes Denken erinnert. Im Gegenzug bekommen sie gelegentlich erstaunliche Interpretationen und Gedankengänge dargeboten. Auf eine im wissenschaftlichen Diskurs streng verhaftete und kleinschrittiger argumentierende Arbeit zu einer psychoanalytischen Theorie des Symbols und des Bildes muss indes noch gewartet werden.
Anmerkung:
[1] Gerhard Neumann: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Ein Entwurf, in: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik, hgg. v. Kathrin Stegbauer / Herfried Vögel / Michael Waltenberger, Berlin 2004, 131-160, hier 135.
Martin Mann