Paul Veyne: Palmyra. Requiem für eine Stadt, München: C.H.Beck 2016, 127 S., 13 Farbabb., ISBN 978-3-406-69237-6, EUR 17,95
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Annie Sartre / Maurice Sartre: Palmyre. Vérités et légendes, Paris: Editions Perrin 2016
Alan K. Bowman / Hannah M. Cotton / Martin Goodman / Simon Price (eds.): Representations of Empire. Rome and the Mediterranean World, Oxford: Oxford University Press 2002
Sonja Nadolny: Die severischen Kaiserfrauen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016
"Palmyra war anders als alle anderen Städte des Imperiums" (122). Dies ist der wohl wichtigste Satz des Bändchens, das Paul Veyne, der Nestor der französischen Althistorie, als "Requiem" auf die syrische Oasenstadt Palmyra verfasst hat. [1] Nicht die Tatsache, dass die inzwischen wieder aus Palmyra vertriebene Terrormiliz "Islamischer Staat" 2015/16 schwerste Zerstörungen in der Ruinenstätte mit Weltkulturerbe-Status angerichtet hat, rechtfertigt ein neues Buch zu dem Thema. Im Übrigen auch nicht die vielen Un- und Halbwahrheiten, die anlässlich der Katastrophe über das antike Palmyra in den Medien die Runde machten und immer noch machen. Die singuläre Ausnahehaftigkeit der Handelsmetropole auf halbem Weg zwischen Mittelmeer und Euphrat - und sie allein - ist es, die nach einer Studie wie der von Veyne vorgelegten förmlich schreit: eine Studie, die den Weg bahnt zum Verständnis Palmyras und, über Palmyra, vielleicht der gesamten uns so fremd gewordenen Welt des römischen Imperiums.
Dies auf engem Raum geschafft zu haben, ist das große Verdienst von Veynes kleinem Büchlein. Zur Geschichte [2], Archäologie [3] und Religion [4] Palmyras - allesamt Fragen, denen Veyne nachgeht - gibt es weitaus gewichtigere Literatur. Die meisten dieser Werke haben im besten Sinne Grundlagenforschung geleistet: Sie haben unser Wissen um wichtige Aspekte bereichert, Kenntnisse erweitert, Fakten erschlossen. Der Historiker Veyne ist, das macht ihn bedeutend, kein Fakten-, sondern ein Sinnhuber. Das beweist er auf jeder der nur 120 Seiten seines Opusculums. Stets ordnet er sein Thema in größere - manchmal viel größere - Sinnzusammenhänge ein. Etwa wenn er den Prozess der Hellenisierung auf eine so bündige wie dialektische Formel bringt: "sich 'hellenisieren', das hieß, sich selbst treu zu bleiben und zugleich sein Selbst zu finden; es hieß, sich zu modernisieren (51). Oder wenn er darlegt, wie einzigartig auch die ökonomische Basis der Oasenmetropole war: Nicht als Grundrentner, sondern als Händler, die es verstanden, "aus der Tätigkeit eines Transporteurs ein kaufmännisches Unternehmen zu machen" (36). Hier ist Veyne gelehriger Schüler Max Webers, doch zu modernen Kapitalisten im Stil der protestantischen Ethik macht er seine Palmyrener nicht: "Der palmyrenische Kapitalist war ganz anders - ein Reiter, ein Krieger, ein Scheich [...]" (42).
Wichtiger aber als die Ökonomie ist Veyne der Ort Palmyras im politisch-kulturellen Koordinatensystem des römischen Kaiserreiches. Das Imperium ist ihm "Diskurs" - der "implizite Rahmen für politisches Denken und Handeln". Veyne beschreibt, wie die oberen Zehntausend in der Oase sich zügig in diesem Rahmen einrichteten, den imperialen "Patriotismus" der Reichseliten zu teilen begannen, aber zugleich lokalen Traditionen treu blieben. Plastisch beschreibt er den Sarkophag eines unbekannten Palmyreners aus dem 3. Jh. - der leider im Abbildungsteil fehlt -, der den Grabherrn auf dem Deckel in lokaler Tracht, mit Reitstiefeln und reich verziertem Kaftan, auf der Vorderseite des Kastens dagegen in römischer Toga, die Priesterhaube auf dem Kopf, beim Feiern einer Opferhandlung zeigt.
Veyne hütet sich, daraus Schlüsse auf die ethnische "Identität" der Palmyrener abzuleiten. Ohnehin war, wie er mit Recht konstatiert, "das Phänomen der Nation" (84) der Antike fremd. Veyne zeigt aber, wie das spezifische soziale und kulturelle Milieu der Oasengesellschaft sehr wohl das Verhalten der Akteure prägte, vor allem in dem schicksalhaften Dutzend Jahre, das zwischen der katastrophalen Niederlage Kaiser Valerians gegen die Perser (260 n. Chr.) und der Eroberung Palmyras durch Kaiser Aurelian (272 n. Chr.) lag. Schon vorher hätte die Clanzugehörigkeit auf Inschriften stets eine größere Rolle gespielt als politische Ämter, in denen sich in griechisch-römischen Städten das Selbstverständnis der Eliten manifestierte. Mit der Krise im römischen Osten wurde Palmyra faktisch zur Erbmonarchie, mit Septimius Odaenathus und seiner Witwe Zenobia als Dynasten. Veyne schildert bündig das "Epos Palmyras", von dem Moment, in dem Odaenathus das Machtvakuum im Orient füllte, bis zum Sturz Zenobias durch Aurelian. Zenobia charakterisiert er, auch hierin vermutlich ins Schwarze treffend, als "gespaltene Persönlichkeit - einerseits eine orientalische Königin [...] und zugleich eine echte Römerin" (84).
Solche Urteile mögen manchem Insider der Palmyra-Forschung, deren Vertreter meist eher dem analytischen Klein-Klein verpflichtet sind, zu gewagt sein. Dieser Rezensent ist der Auffassung, dass Veyne, der die gesamte Antike - und bei weitem nicht nur sie - souverän überblickt, einem Verständnis des Phänomens Palmyra nähergekommen ist als so manche dickleibige Spezialstudie. Der intellektuelle Historiker und französische Kulturbürger Veyne, der André Gide ebenso selbstverständlich im Munde führt wie Ernest Renan, bringt die "Kulturbedeutung" - um noch einmal Weber zu bemühen - der antiken Metropole prägnant auf den Punkt. Deshalb geht die Kritik, Veyne habe zum Wüten des IS nur "Binsenwahrheiten" in petto [5], am Kern vorbei. Wir schützen nur, was wir lieben, und wir lieben nur, was wir kennen. Zur Kenntnis und, was mehr ist, zum Verständnis des antiken Palmyra hat Veyne seinen Beitrag geleistet. Dafür gebührt ihm Dank.
Anmerkungen:
[1] Der Text ist die erweiterte Fassung von zwei Aufsätzen, die Veyne zu Palmyra verfasst hat, publiziert in: Gérard Degeorge: Palmyra, München 2001; Paul Veyne: L' Empire gréco-romain, Paris 2005.
[2] Udo Hartmann: Das palmyrenische Teilreich (Oriens et Occidens, Bd. 2), Stuttgart 2001; Erwin M. Ruprechtsberger (Hg.): Palmyra. Geschichte, Kunst und Kultur der syrischen Oasenstadt. Einführende Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Stadtmuseum Linz-Nordico, 10. April - 27. Mai 1987 (Linzer archäologische Forschungen, Bd. 16), Linz 1987; Andrew M. Smith III: Roman Palmyra. Identity, community, and state formation, New York 2013; Jean Starcky / Michał Gawlikowski: Palmyre, Paris 21985; Javier Teixidor: Un port romain du désert, Palmyre, et son commerce d'Auguste à Caracalla (Semitica, Bd. 34), Paris 1984; Jean-Baptiste Yon: Les notables de Palmyre, Beyrouth 2002.
[3] Andreas Schmidt-Colinet (Hg.): Palmyra. Kulturbegegnung im Grenzbereich, Mainz 32005; A. Schmidt-Colinet / Waleed Al-As'ad: Palmyras Reichtum durch weltweiten Handel. Archäologische Untersuchungen im Bereich der hellenistischen Stadt, Wien 2013.
[4] Ted Kaizer: The religious life of Palmyra. A study of the social patterns of worship in the Roman period, Stuttgart 2002.
[5] Andreas Kilb in der FAZ vom 12. März 2016.
Michael Sommer