Norbert Haas: Forever Jorn. Ein monographischer Essay, Wädenswil: Nimbus Verlag 2014, 208 S., ISBN 978-3-03850-001-8, EUR 36,00
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Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten und gemeinhin bemühen sich zwei Mannschaften um den Ausgang des Spieles. Diese Grundkonstellation stellte der dänische Künstler und Theoretiker Asger Jorn (1914-1973) auf den Kopf als er das dreiseitige Fußballfeld erdachte. Als Situationist und Mitbegründer der Gruppe CoBrA stellte diese Spielanordnung die Veranschaulichung seines philosophischen Systems der Triolektik dar - ein Versuch der Dekonstruktion der Dialektik. Die Austragung auf dem sechseckigen Spielfeld verzichtet auf einen Schiedsrichter und es gewinnt diejenige Mannschaft, die die wenigsten Gegentore zulässt. Verkehrte Verhältnisse, Umdeutungen und spielerische Sichtbarmachungen, die prototypisch die Herangehensweise Jorns illustrieren.
Der Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker Norbert Haas würdigt zusammen mit seiner Frau, der Kunsthistorikerin Vreni Haas, in der umfangreichen Studie "Forever Jorn" Leben und Werk des in Jütland geborenen Künstlers, nicht nur um eine inhaltliche Erweiterung des thematischen Spielfeldes, sondern vor allem auch die Mitspieler im "System Jorn" zu ermitteln. Es sind dies prägende Weggefährten im Zentrum und in der Peripherie der künstlerischen Austragungsorte, die Beschäftigung mit der Psychoanalyse, sowie allgemeiner, die kunsttheoretischen Prägungen und Auseinandersetzungen Jorns. Dies in insgesamt zehn materialreichen Kapiteln, die den oftmals lediglich verkürzt als "Picasso des Nordens" apostrophierten Künstler in verschiedenen Facetten vorstellen. Das Ergebnis ist eine äußerst persönliche Spurenlese, woraus Norbert Haas im Vorwort kein Geheimnis macht.
Das erste Kapitel widmet sich zunächst chronologisch dem Frühwerk Jorns, in der - so Haas - Jorns "Menagerie" (21) entsteht. Ein Repertoire an Figuren und Symbolen der innersten Bilderwelt seiner zukünftigen Arbeiten. Den erlernten Lehrerberuf gibt Asger Jorn auf, investiert in ein Motorrad und lässt die dänische Provinz zurück. Im Visier: Ferdinand Légers Atelier de l'Art Contemporain mit anti-akademischen Ausbildungsideen, die ein Bewusstsein für Formen und Bewegungsmuster vermitteln. Dort lernt er Pierre Wermaere kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft, auch durch unsichere Zeiten, verbindet. Haas verweist auf die notwendige kritische Reflektion und Durchdringung des Frühwerkes, da dieses in der Literatur oftmals unter dem Rubrum "skandinavische Phase" zusammengefasst wird und damit nicht nur dichotomisch seinem Spätwerk gegenübergestellt wird, sondern die Rezeption Jorns nachhaltig prägen sollte.
Das zweite Kapitel stellt den wichtigsten Bezugspunkt Jorns ins Zentrum der Überlegungen: den Betrachter. Das Wissen um und das gestalten von perzeptuellen Vorgängen prägt Jorns materialistische Kunstauffassung elementar, die er in seiner Schrift Was ist ein Ornament (1948) wie folgt zu fassen versucht: "Welches ist der Unterschied bei einer naturalistischen und einer materialistischen Kunsteinstellung? Es ist derselbe Unterschied wie die Natur zu betrachten oder selbst natürlich zu sein, wie die Natur zu reproduzieren oder wiederzugeben oder seine eigene Natur in der Natur des Materials ausgedrückt zu finden" (38). Durch Bilder sollen primär Erinnerungsbilder aufgedeckt werden. In einer Vielzahl von Vor- und Rückblenden stellt Haas die damit verbundenen Konsequenzen für den malerischen Ausdrucksprozess Jorns vor. Spannend liest sich die Analyse, die Jorn in seiner gestischen Auffassung der Malerei geprägt haben könnte. So verweist Haas etwa auf die Schriften Henri Focillons, der insbesondere mit seinem Werk Vie de formes (1934) das Denken Jorns prägt. Ebenso stimulierend wirken auf Jorn die in diese Zeit fallenden ersten Kontakte mit der Psychoanalyse. Es kommt zum Austausch mit Sigurd Næsgaard, der die Schriften Sigmund Freuds in Dänemark bekannt machte. Gezeichnet ist dieses Kapitel von der stets voraneilenden Faszination des Autors für das Werk des Künstlers, das manche methodische Fragestellungen verschließen, statt sie zukünftigem methodischen Anschluss zu öffnen: "Das Magische an Jorns Bildern besteht darin, dass sie an subjektiv Reales appellieren [...], das als ein nie ganz Assimilierbares bestehen bleibt und vielleicht gerade deshalb wie ein Bann wirkt. Das gilt für den Künstler wie für den Betrachter" (49).
Einen zentralen Punkt nimmt im sechsten Kapitel die Analyse des wohl monumentalsten Werkes Jorns ein. Es trägt den Titel "Stalingrad" und befindet sich heute im nach ihm benannten Museum Jorn in Silkeborg. Entstanden ist es ab 1957 in vier Phasen. Phasen der Übermalung, Rücknahmen und Ergänzungen. Auslöser für das Bild sind die Erzählungen seines späteren Hausmeisters während seines Italienaufenthaltes, Umberto Gambetta, der seine Erlebnisse in Stalingrad mit dem Künstler teilt. Des Weiteren ist Stalingrad für Jorn ein Ereignis, das seine Wurzeln im Spanischen Bürgerkrieg von 1937 trägt und seine "Verachtung für die Gruppe von Intellektuellen, die sich mit dem Krieg gemein machten" (92) begründet. Bereits 1946 reiste Jorn nach Antibes, um Pablo Picasso persönlich kennenzulernen und sich intensiv mit dessen Bildsprache auseinanderzusetzen. "Guernica ist vom Standpunkt eines involvierten und empörten Betrachters aus gemalt. Es ist das direkte symbolische Bild eines Ereignisses. Ich dagegen wollte nicht die äußere, sondern die innere Realität des Kriegsaktes abbilden" (93), so Jorn. Die Bilddeutung lässt seine Kunstauffassung erkennen, die er in seinem kunsttheoretischen Hauptwerk "Pour la forme" (1957) niederlegt. Hierin verhandelt Jorn die Begriffe Symbol, Symptom und Signal und versucht diese zueinander in Beziehung zu setzen. Diese Auseinandersetzung sieht Norbert Haas in Stalingrad prototypisch verdeutlicht. Die im Bild angelegten Zeichen lösen Prozesse aus, sind nicht das Zeichen selbst. Somit ist keine Erinnerung an die Katastrophe fixiert, in dieser Lesart geht es im Bildwahrnehmungsakt um die Wahrnehmung der Katastrophe.
Aufschlussreich ist die Lektüre der sich anschließenden Kapitel "Dietrich in der Volkskunst (Folkekunstens Didrek)" und "Kunst des Nordens". Hier widmet sich Haas einem komplexen Kapitel Jorns Schaffens, das bis heute wenig Beachtung fand. Zwar wurde Jorn immer in die Kategorie des Nordischen Künstlers gestellt, jedoch wurde nur selten so intensiv die Auseinandersetzung mit der nordischen Symbolwelt in Hinblick auf Jorns Bild und Mythenverständnis untersucht. Jorn setzt sich beispielsweise intensiv mit der Außenfassade der Kirche von Grötlingbo auf Gotland auseinander. Sie zeigt Szenen aus dem Leben des Gotenkönigs Dietrich und diese Bildzeugnisse sind für Jorn primär Ausdruck "der bildnerischen Lust ihrer Erzeuger" (107). Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der so entstandenen Bilderwelt mündet in zwei Materialbücher, die 1978 - also fünf Jahre nach seinem Tod - unter dem Titel Folkekunstens Didrek und Gotlands Didrek erscheinen. Diskutiert werden darf Haas Einordnung der kulturtheoretischen Bedeutung: "Das Zeichen das Jorn interessiert, hat keine kollektive oder kollektivierbare Bedeutung, es ist einmalig und kann im Fall der Steinritzung allenfalls der individuellen Mythe eines zumeist anonymen Produzenten zugeschrieben werden. Diese Auffassung wendet sich gegen eine mächtige Tradition von Bildverständnis. Freuds Begriff der Phylogenese von Bild- und Wortvorstellungen ist hier nicht weniger auf dem Prüfstand als etwa das Bildverständnis eines Aby Warburgs" (132).
Tatsächlich beginnt Asger Jorn (man ist in Warburgscher Tradition versucht) von einem Bildatlas des Nordens auszugehen. In diesem Zuge entstehen ein umfangreiches Buchprojekt über die Geschichte vorzeitlicher dänischer Kunst und das von ihm gegründete Skandinavische Institut für Vergleichenden Vandalismus (SIVV). Mit dieser interdisziplinären Gruppe reist er durch die Lande und dokumentiert mit Akribie und Leidenschaft Volkskunst und Kirchenkunst. Ein ambitioniertes Projekt, das auf einen Umfang von 20 Bänden anwuchs. Vernachlässigt werden sollten kunsthistoriografische Systematiken, die die Bilderwelten zu kategorisieren versuchten. Aufgrund fehlender finanzieller Unterstützung konnte das Projekt nicht realisiert werden.
Den Abschluss der Studie bilden zwei wichtige biografische Stationen. Der Rückzug in das Dörfchen Albisola an die ligurische Küste, in dem auch der Künstler Lucio Fontana sein Atelier hatte und dessen Untermieter er zeitweise ist. Als Refugium eines Weltbaumeisters bezeichnet Ruth Baumeister einmal diesen Ort [1], an dem vor allem die skulpturale Beschäftigung im Medium der Keramik auffällt. Das letzte Kapitel schließlich führt auf das dort von Jorn erworbene Hofgut Bangsbohave, einem Ort der Begegnung (gleichzeitig Entstehungsort für die letzten großen Arbeiten Jorns) auf einer Insel im Hohen Norden Jütlands.
Die Lektüre wird an einigen Stellen durch die methodische Herangehensweise des Autors als Bild-Zeichen-Wahrnehmender erschwert, der dabei primär von den Zeichen geleitet ist, die den subjektiven Wahrnehmungsprozess einleiteten. Davon ungetrübt spricht das ausgebreitete Material eine Einladung aus, sich der "Menagerie" Jorns zu nähern und damit zum Mitspieler im System Jorn zu werden.
Anmerkung:
[1] Ruth Baumeister (Hg.): Fraternité avant tout. Asger Jorn's writings on art and architecture, Rotterdam 2011, 100.
Julia Kleinbeck