Dagmar Nick: Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familienbuch, München: C.H.Beck 2015, 268 S., ISBN 978-3-406-68148-6, EUR 24,95
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Ihm, dessen Name zumindest Historikern geläufiger sein mag, hat sie das Buch gewidmet: Der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern, vor wenigen Wochen 90-jährig in New York verstorben, ist der vielfach preisgekrönten Lyrikerin Dagmar Nick, die ebenfalls 1926 in Breslau geboren wird, verwandtschaftlich eng verbunden, und so ist es auch seine Familiengeschichte, der sie in ihrem "jüdischen Familienbuch" - so der Untertitel - nachgespürt hat. "Woher komme ich", lautet scheinbar schlicht die Leitfrage, die den Auftakt bildet und als roter Faden die Stimmenvielfalt der hier genannten Namen zusammenhalten muss. Die Vertreibung sephardischer Juden aus Spanien - erst in diesen Tagen von der Regierung in Madrid erneut auf die Tagesordnung gehoben - steht am Beginn einer Familiengeschichte, die ihre Fortsetzung zunächst in Hamburg und Altona findet, wo 1966 mit der Gründung des Instituts für die Geschichte der Deutschen Juden erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg diesen Zusammenhängen erneut wissenschaftliche Aufmerksamkeit zugewendet wird.
Schon einmal hat Dagmar Nick die Vorfahren in den Blick genommen, in einer biografischen Studie über den bedeutenden Liberalen und politisch vielfältig engagierten Arzt Sigismund Asch (1825-1901), die sie 1998 unter dem Titel "Jüdisches Wirken in Breslau" publiziert hat und die den Auftakt ihrer familienbiografischen Erkundungsgänge bildet. [1] Diesmal greift sie weiter aus, reicht ihr Blick in länger zurückliegende Epochen zurück, mutet sie ihren Lesern ein weniger umfassend erforschtes, geradezu sprödes Anliegen zu. "Deutsch-jüdische Geschichte in der Frühen Neuzeit", so beschreiben diesen Umstand auch die Spezialisten, "ist als Themenschwerpunkt und erst recht als Epochengeschichte eigenen Zuschnitts ein junges Forschungsfeld. Denn die Zeit zwischen Mittelalter und Moderne, zwischen den spätmittelalterlichen Vertreibungen und der Emanzipation wurde lange unterschätzt; und die spezifischen Bedingungen, unter denen die Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte in Deutschland nach der Shoa entstanden, gingen lange an der frühneuzeitlichen Epoche vorbei." [2]
Und so entfaltet sie vor den Augen ihrer Leser die archivalisch oft nur in Bruchstücken überlieferten Lebensläufe unzähliger Ahnherren, deren Leben und Überleben vom Erwerb der landesväterlichen Geleit- und Schutzbriefe ebenso abhängig war wie von einer klugen Heiratspolitik, wobei ihr besonderes Interesse nicht zuletzt den Frauen gilt, die sie als historische Subjekte in den Blick nimmt, wo immer die Quellenlage dies zulässt. Nicht selten aber muss sie konzedieren, dass zumal private Zusammenhänge selbst bei sorgfältigster Recherche den Nachgeborenen verschlossen bleiben. Ganz beiläufig jedoch widerlegt der Blick in die Rechnungsbücher der Vorfahren gängige Narrative über Hofjuden und Zinswucher. Und es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang noch einmal auf die monumentale biografische Studie zu verweisen, die Fritz Stern in diesem Zusammenhang über "Bismarck und seinen Bankier Bleichröder" vorgelegt hat.
Wie aber hat sie selbst - als Tochter einer "Halbjüdin" in Berlin lebend - die nationalsozialistische Zeit in Deutschland erlebt, besser: überlebt? Es bleibt dies die Leerstelle in ihrem enzyklopädisch angelegten Rückblick auf vier Jahrhunderte der Verfolgung und Ausgrenzung, der Assimilation und bürgerlichen Erfolgsgeschichten. Völlig unvermittelt bricht ihre Familiengeschichte 1938 dort ab, wo sie nicht mehr als Chronistin fremder Leben, sondern ihrer eigenen Lebensgeschichte gefragt wäre. Und allen Rückfragen zu den Jahren, als mit der Emigration von Fritz Stern und dem Verbleib ihrer eigenen Familie in Berlin die Erfahrungsräume der beiden plötzlich und drastisch auseinanderfallen und die für den Zeithistoriker von besonderem Interesse sein dürften, ist die Autorin bislang höflich, aber bestimmt ausgewichen. "Ich bin zum Glück niemand, der Traumata entwickelt", lautet ihre knappe Selbstdiagnose. [3] Wer mehr darüber erfahren möchte, wird sich also über ihre Gedichte beugen müssen, die sie selbst als therapeutisches Medium beschrieben hat: "Der Impuls meines Schreibens war immer der Wunsch, etwas loszuwerden, das mich bedrückte - eben damals die traumatischen Erfahrungen von Krieg, Flucht und Nachkriegszeit - oder später das Erschrecken darüber, was Menschen der Welt antun. Für mich haben Gedichte eine therapeutische - oder genauer: eine selbsttherapeutische Funktion". [4]
Als eine spezifische Form der Weltaneignung sind diese literarischen Selbstzeugnisse für den Historiker nicht immer einfach zu deuten, und insbesondere den Zeithistoriker mag diese Perspektive nicht immer zufriedenstellen. Zu akzeptieren haben wir jedoch, dass nicht jeder in dieser Generation das wissenschaftliche Interesse an privaten Zusammenhängen als angemessen empfinden mag. Nicht jeder, der die Jahre des Nationalsozialismus aus eigener Anschauung kennt und ein jüdisches Familienbuch vorzuweisen hat, fühlt sich zwangsläufig in den Holocaust Studies zu Hause. Nicht immer wollen sich Familiengeschichten auf das "Postkatastrophische" reduzieren lassen. Über seine Gespräche mit der Holocaust-Überlebenden Marianne Ellenbogen hat der amerikanische Historiker Mark Roseman in diesem Zusammenhang berichtet: "Sie hatte zwar widerwillig akzeptiert, dass ein öffentliches Interesse an ihren Erfahrungen während der NS-Zeit und im Krieg bestehe, aber was nach ihrer Einreise in Großbritannien nach 1945 passiert war, hielt sie für Privatsache." [5]
Damit gemahnt der Text von Dagmar Nick, die komplexe Vorgeschichte der Verfolgung stärker einzubeziehen in eine Erfahrungsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Immer häufiger hat die Forschung in den vergangenen Jahren gerade den Grenzen jüdischer Erfahrungsräume und der Vielfalt jüdischer Identitäten und Lebensentwürfe ihre besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. [6] Jüdische Geschichte ist mehr und komplexer als die politische Gebrauchsprosa zu den einschlägigen Gedenktagen vermuten lässt. "Es war eine glückliche Zeit und der Beginn einer lebenslangen Freundschaft", schreibt sie über die Weimarer Zeit und die gemeinsamen künstlerischen Projekte des noch jungen Schriftstellers Erich Kästner mit ihrem Vater, dem Komponisten Edmund Nick, an die beide nach dem Krieg fast bruchlos anzuknüpfen vermochten. [7] An diese trotz aller Brüche vielfach dichte deutsch-jüdische Verflechtungsgeschichte zu erinnern ist ihr wirkliches Anliegen, und so sind die wahren Helden ihrer Familiengeschichte Frauen wie die Breslauer Schriftstellerin und Sozialaktivistin Lina Morgenstern, prominente Protagonistin der bürgerlichen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert und "eine der seltenen Frauen, die Deutschtum und Judentum harmonisch zu verbinden wissen". [8]
Anmerkungen:
[1] Dagmar Nick: Jüdisches Wirken in Breslau: Eingeholte Erinnerung. Der Alte Asch und die Bauers, Würzburg 1998.
[2] https://www.historicum.net/themen/juedische-geschichte/ [letzter Zugriff: 01.05.2016].
[3] http://www.svz.de/deutschland-welt/kultur/den-juedischen-ahnen-auf-der-spur-dagmar-nick-wird-90-id13831231.html.
[4] Mein Handwerkszeug: Photokopierer, Uhu, Schere. Dagmar Nick im Gespräch mit Pia-Elisabeth Leuschner, http://www.poetenladen.de/pia-leuschner-dagmar-nick.htm (15.02.2012).
[5] Mark Roseman: "It went on for years and years". Der Wiedergutmachungsantrag der Marianne Ellenbogen, in: Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, hgg. von Norbert Frei / José Brunner / Constantin Goschler, Göttingen 2009, 51-78, hier 51.
[6] Vgl. Mirjam Zadoff: German-Jewish Borderlands. On 'Non-Jewish Jewish Spaces' in Weimar and Nazi Germany, in: Jewish and non-Jewish Spaces in Urban Context, hgg. von Alina Gromova / Felix Heinert / Sebastian Boigt, Berlin 2015, 151-164.
[7] Edmund Nick: Das literarische Kabarett "Die Schaubude" 1945-1948. Seine Geschichte in Briefen und Songs, hg. und kommentiert von Dagmar Nick, München 2004, 10.
[8] Dagmar Nick: Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familienbuch, München 2015, 245.
Claudia Moisel