Gregor Feindt: Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft. Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat 1976-1992 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 47), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, XII + 403 S., ISBN 978-3-11-041977-1, EUR 49,95
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Gregor Feindt macht sich auf die Suche nach der Nation in den Debatten des ostmitteleuropäischen Samizdat der 1970er und 1980er Jahre. Er widmet sich damit einem Thema, dessen Relevanz angesichts der gegenwärtigen Hochkonjunktur des Nationalen im östlichen Europa auf der Hand liegt - umso mehr, als führende Protagonisten dieser Welle wie Viktor Orbán oder Jarosław Kaczyński ihre politische Laufbahn in den Oppositionsbewegungen jener Zeit begannen. Allerdings gilt das Augenmerk des Buchs, wie schon der Titel verrät, nicht der Praxis ethnonationalistischer Vergemeinschaftung, sondern der Nation als Modell "politischer Gemeinschaft" und als "herausfordernde[m] Leitbegriff oppositionellen politischen Denkens" (1). Damit ist die ideengeschichtliche Anlage der Studie klar umrissen, die sich als Beitrag zur Historisierung der demokratischen Oppositionsbewegungen im spätsozialistischen Ostmitteleuropa versteht und im Kern auf die intellektuellen Bruchlinien und Aushandlungsprozesse zwischen liberalen, oftmals postrevisionistischen Dissidenten und ihren konservativen Kontrahenten innerhalb der Opposition fokussiert.
Wo also wird Feindt fündig? Mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nimmt er jene Nationalstaaten im sowjetisch dominierten Ostblock in den Blick, in denen Dissidenz und Opposition während des Spätsozialismus die größte Bedeutung erreichten - wenn auch beträchtliche Unterschiede zwischen der oppositionellen Massenbewegung in Polen, den elitären Intellektuellenzirkeln in Prag und den halboffiziellen Debatten im reformsozialistischen Flügel der ungarischen Partei bestanden, wie Feindt wiederholt unterstreicht. Seine Untersuchung stützt sich im Wesentlichen auf eine breite Auswertung von Schriften des Samizdat, also jener illegal gedruckten und zirkulierten Untergrundliteratur, derer sich oppositionelle Intellektuelle als Kommunikationsmittel und performativ hergestellten Aktionsraums bedienten. Innerhalb dieses heterogenen Quellenmaterials, das Genres von experimenteller Lyrik bis hin zu tagesaktuellen Nachrichten umfasst, interessiert er sich für politisch-publizistische Grundsatzdebatten, in denen mit der ideologischen, historischen und geopolitischen Verortung der jeweiligen nationalen Gemeinschaft zugleich Grundlagen des oppositionellen Selbstverständnisses verhandelt wurden.
Für sein Buch wählt Feindt insgesamt zwölf Fallstudien aus, anhand derer er die Herausbildung eines spezifisch oppositionellen Verständnisses des Nationsbegriffs empirisch nachzeichnet. Diese reichen von den Diskussionen um die geschichtsphilosophischen Skizzen von Jan Patočka und Petr Pithart in der Tschechoslowakei über die polnische Samizdat-Debatte zu den Perspektiven einer eventuellen deutschen Wiedervereinigung bis hin zu den Reaktionen auf das von Milan Kundera aufgebrachte Mitteleuropa-Konzept. Darstellerisch gliedert Feindt seine Studie in drei Hauptkapitel, in denen er zunächst die Selbstverständigungsdebatten der frühen Opposition in den späten 1970er Jahren diskutiert, sich sodann den verschiedenen Deutungen der nationalen Vergangenheit zuwendet und schließlich die oppositionellen Diskussionen über die Beziehungen zu benachbarten Nationen analysiert.
Feindts wohldurchdachte und umsichtig argumentierende Studie macht deutlich, wie sehr die nonkonformistischen Intellektuellen von Anfang an vor der schwierigen Herausforderung standen, ihren Einsatz für individuelle Menschenrechte mit kollektiven Ordnungs- und Handlungsrahmen zu vermitteln, um sich über elitäre Nischendiskurse hinaus Gehör zu verschaffen. Er arbeitet überzeugend heraus, in welchem Maße auch vom sozialistischen Revisionismus geprägte Oppositionelle trotz anfänglichen Fremdelns auf die Nation als zentrales Konzept politischer Vergemeinschaftung zurückgriffen. Damit räumt er endgültig mit dem von der sozialwissenschaftlichen Forschung gepflegten, von Zeithistorikern jedoch seit einiger Zeit in Frage gestellten Mythos auf, die ostmitteleuropäische Opposition habe sich in erster Linie am Leitbegriff der Zivilgesellschaft orientiert. Feindt konstatiert hingegen ein Ineinandergreifen von universalistischer Moral, Menschenrechtsdiskurs und essentialistischen Nationsvorstellungen, das auf der Basis des für die oppositionelle "Diskursethik" charakteristischen "Willen[s] zur Gemeinschaft und zum Konsens" (294) immer wieder neu pragmatisch ausgehandelt wurde. Im Ergebnis lief dies auf eine liberale Einhegung hergebrachter Nationalismen hinaus, die Feindt in Anlehnung an Yael Tamir unter dem Begriff "liberal nationalism" subsumiert.
Es ist Feindt hoch anzurechnen, dass er sich trotz seiner erkennbaren Sympathien für die liberalen Oppositionellen und ihr leidenschaftliches intellektuelles Engagement keine Illusionen darüber macht, dass die Wirkung der von diesen propagierten nationalen Selbstreflexion auf die Oppositionsbewegungen als ganze oder gar auf die Transformationen von 1989 insgesamt sehr überschaubar blieb. Vielmehr konzediert er freimütig, dass die von ihm herausgearbeitete liberale Einhegung des Nationalismus allenfalls in der Formationsphase der Opposition wirklich funktionierte, als diese noch durch persönliche Kontakte unter Intellektuellen geprägt war. In Ungarn, wo die Bindung an ein gemeinsames dissidentisches Milieu fehlte, wie es sich in Prag und gegen Ende der 1970er Jahre auch in Polen herausgebildet hatte, kam es sogar zu keinem Zeitpunkt zu einer mehr als punktuellen Verständigung zwischen national orientierten Volkstümlern und postrevisionistischen Urbanisten. Aber auch in Polen und der Tschechoslowakei nahm die diskursive Bindewirkung des liberal-nationalen Konsenses schon in den 1980er Jahren merklich ab - bis sie nach 1989 gänzlich fortfiel.
Angesichts dessen mag man Feindts generalisierende Deutung der liberal-reflexiven "oppositionellen Nation" als eines verbindlichen "Möglichkeitsrahmens" für oppositionelles Sprechen über die Nation (291) für etwas gewagt halten, konnte diese doch nur für einen recht kleinen Ausschnitt des politischen Spektrums der Opposition Geltungskraft beanspruchen. Fragwürdig bleibt auch die Übertragung dieses Befunds auf die Massenbewegung der Solidarność von 1980/81, in der Feindt geradezu eine "idealtypische Umsetzung" des inklusiven oppositionellen Nationsverständnisses erblicken möchte (295). Obwohl Feindt seinen methodischen Fokus in der einschlägigen Fallstudie um die symbolische Dimension der Streikbewegung erweitert, zeigen sich hier die Grenzen seines primär ideengeschichtlichen Zugriffs: So referiert er allein die Grundzüge der innergewerkschaftlichen Programmdebatten im Vorfeld des Gewerkschaftstags im Herbst 1981, während er die erbitterten Flügelkämpfe, die auf diesem Kongress alles andere als solidarisch ausgetragen wurden, ebenso mit Schweigen übergeht wie den unübersehbaren Bedeutungsgewinn der radikal nationalistischen Strömung der selbsternannten "Wahren Polen" (prawdziwi Polacy) innerhalb der Solidarność.
Zwar distanziert sich Feindt mit guten Gründen von der älteren Oppositionsforschung und deren normativ vorgeprägter Wahrnehmung ihres Forschungsgegenstands, die sich zumeist auf liberale und für westliche Diskurse anschlussfähige Meisterdenker wie Vacláv Havel und Adam Michnik konzentrierte. Stellenweise kann man sich des Eindrucks jedoch nicht erwehren, dass sein ideengeschichtlicher Ansatz eine solche selektive Wahrnehmung trotz der ungleich größeren Quellenbasis zumindest in Teilen reproduziert. Da er seine Analyse im Wesentlichen auf das intellektuelle Räsonnement der oppositionellen Eliten beschränkt und dieses nur recht zaghaft in gesellschaftsgeschichtliche Kontexte einbettet, bleiben große Teile der durchaus ambivalenten Dynamik, die das Konzept der Nation innerhalb der Oppositionsbewegungen entfaltete, außen vor. Auch der Einfluss der sich zunehmend nationalistisch gerierenden spätsozialistischen Regime auf die in der Opposition diskutierten Nationskonzepte bleibt eher unterbelichtet.
Demgegenüber ist das Untersuchungsdesign der Studie hervorragend geeignet, um den bisherigen Forschungsstand zu transnationalen Verflechtungen zwischen den ostmitteleuropäischen Oppositionsbewegungen auf den Prüfstand zu stellen. Feindt geht auch in dieser Hinsicht methodisch äußerst reflektiert vor und erliegt an keiner Stelle der Versuchung, transnationale Zusammenhänge zu konstruieren, wo keine waren. Stattdessen kann er zeigen, dass entgegen der gängigen Annahmen stets die jeweiligen nationalen Diskussionsrahmen und Kontexte oppositionellen Denkens ausschlaggebend blieben. Wenn sich dennoch strukturelle Ähnlichkeiten in den oppositionellen Sinnwelten der drei Länder feststellen lassen, so ist dies eher auf vergleichbare Ausgangsbedingungen und parallele Entwicklungen zurückzuführen als auf intellektuelle Verflechtungen und Transfers über Grenzen hinweg. Wie Feindt luzide darlegt, standen nationale Rahmungen einem produktiven transnationalen Austausch selbst dort im Wege, wo er aufgrund thematischer Verflechtungen eigentlich zu erwarten gewesen wäre, so etwa bei Debatten um den Status der ungarischen Minderheit in der Slowakei und vor allem bei der Mitteleuropa-Debatte.
Wenn Feindt das Spezifische des oppositionellen Denkens in seinem "Doppelcharakter [...] zwischen intellektueller Abstraktion und handlungsleitender Pragmatik" sieht (60), so liefert sein Buch vor allem im Hinblick auf ersteres wichtige Erkenntnisse. Es relativiert bisherige Annahmen über die vermeintliche Dominanz des Menschenrechtsparadigmas und bettet die Ideengeschichte der ostmitteleuropäischen Opposition überzeugend in ihre nationalen Kontexte ein. Feindts problemorientierte Darstellung mit ihren unvermeidlichen zeitlichen und geographischen Sprüngen trägt freilich dazu bei, dass die wechselvolle konkrete Dynamik der Oppositionsbewegungen hinter der abstrahierenden Analyse etwas zurücktritt. Spürt man in seiner Studie dem chronologischen Wandel und den Folgewirkungen der oppositionellen Nationsdiskurse nach, stellt sich das oppositionelle Ringen um eine liberale Einhegung des affirmativen Nationalismus, womöglich entgegen den Intentionen des Autors, eher als eine Geschichte des Scheiterns dar. So gelesen, bietet Feindts Buch durchaus auch eine Vorgeschichte der ostmitteleuropäischen Gegenwart.
Florian Peters