Francesca Bregoli: Mediterranean Enlightenment. Livornese Jews, Tuscan Culture, and Eighteenth-Century Reform (= Stanford Studies in Jewish History and Culture), Stanford, CA: Stanford University Press 2014, XIV + 339 S., ISBN 978-0-8047-8650-8, USD 45,00
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Die "nazione ebrea" von Livorno ist im 18. Jahrhundert nicht nur die größte und privilegierteste jüdische Gemeinde in Italien, sondern auch die zweitgrößte in der westlichen Diaspora. Seit den ersten Einladungen der Medici, sich in der toskanischen Hafenstadt niederzulassen und zu handeln, genießen Juden in Livorno Privilegien, die über diejenigen aller anderen europäischen Juden ihrer Zeit hinausgehen. Aus den genannten Gründen ist eine Studie zu Juden in Livorno immer eine Studie zu einer jüdischen Ausnahmegemeinde. Gleichzeitig ist das Beispiel Livornos jedoch so gewichtig, dass es ausreicht, um gängige Narrative zur westeuropäisch-jüdischen Geschichte infrage zu stellen und Brüche aufzuzeigen, die weit über Livorno hinausgehen.
Francesca Bregoli setzt sich in "Mediterranean Enlightenment" das Ziel, Reaktionen der Livornesischen "nazione ebrea" auf die Aufklärung und toskanische Reformbemühungen nach dem Ende der Medici-Dynastie zu untersuchen und neues Licht auf die Trias von Akkulturation, Moderne und Emanzipation in der europäisch-jüdischen Geschichte des 18. Jahrhunderts zu werfen. Ihr Buch ist neben einer Einleitung und einem Fazit in acht Kapitel gegliedert.
Nach einem ersten Kapitel, in dem sie die politische Beziehung zwischen "nazione ebrea" und den Regierungen der Großherzöge von Toskana Franz Stephan von Lothringen (1737-65) und Peter Leopold von Habsburg-Lothringen (1765-90) erläutert, zeigt Bregoli im zweiten Kapitel am Beispiel des Gelehrten Joseph Attias (1672-1739) die Bemühungen eines Juden, sowohl in der jüdischen Gemeinde aktiv zu bleiben als auch als kultureller Mittler und "port scholar" (46-50) Teil einer universellen Gelehrtenrepublik zu werden, in der Religionszugehörigkeit idealerweise keine Rolle spielen sollte. Im dritten Kapitel wird die Bibliothek desselben Attias zum Ausgangspunkt genommen, um seine Offenheit für empirische Forschung, sein klares Eintreten für eine Wissenschaft ohne Theologie und seine wesentlich ambivalentere Haltung für eine Theologie, die dennoch von wissenschaftlichen Kriterien durchdrungen ist, aufzuzeigen. Im vierten Kapitel, das eines der spannendsten des ganzen Buches ist, zeigt Bregoli, wie jüdische Studierende im toskanischen Pisa und Livorno Zugang zu einer neuen experimentellen Wissenschaft und professionalisierten Medizin gewinnen, wie sie aber vor allem mit aufgeklärten Vorstellungen ihrer sozialen Bedeutung als Ärzte in Kontakt kommen, die schließlich dazu führen, dass sie ihre Arbeit in den Dienst eines allgemeinen gesellschaftlichen und nicht mehr auf die "nazione ebrea" beschränkten Interesses stellen.
Gleichzeitig stellt Bregoli klar heraus, dass die genannten Erläuterungen einzelne Männer, nicht aber Institutionen derselben "nazione ebrea" betreffen und dass der Prozess medizinischer Säkularisierung, der mit der Reorganisation der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Toskana einsetzt, in den Gesellschaften, die die Kranken, Armen und Waisen der "nazione ebrea" versorgen, keine Wirkung zeigt, weil hier stattdessen traditionelle religiöse Werte und Frömmigkeitsprinzipien bestimmend bleiben.
Es folgt ein Themenblock zu jüdischen Reaktionen auf toskanische Reformen im Bereich von Freizeit, Wirtschaft und Politik. Im sechsten Kapitel untersucht Bregoli das spannende Thema jüdischer Kaffee- und Spielhäuser, die sich im Kontext lothringisch-habsburgischer Bemühungen, Spiele in nützliche und staatlich geförderte Unternehmungen zu verwandeln, seit den 1740er-Jahren ständig neu definieren müssen. Gleichzeitig aber sind, Bregoli zufolge, jüdische und nicht-jüdische Verantwortliche zu jeder Zeit auf soziale und religiöse Trennungen bedacht, was bekannten Narrativen des "kritischen bürgerlichen Kaffeehauses" widerspricht. Im siebten Kapitel werden jüdische Buchdrucker thematisiert, die nach der Liberalisierung des Buchmarktes und ihrer Gleichstellung mit nicht-jüdischen Buchdruckern unter Peter Leopold nicht konkurrieren können und sich vergeblich um eine Rückkehr zur protektionistischen Politik früherer Herrscher bemühen. Im achten Kapitel wird ein französischer, in Livorno publizierter Kaffeehausdialog über Lessings "Die Juden" zum Ausgangspunkt genommen, um über die Frage zu diskutieren, warum jüdische Eliten in Livorno sich als nicht reformbedürftig ansehen und warum die von Christian Wilhelm von Dohm angeregte "Bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781) in Toskana ohne Echo bleibt.
Besonders interessant sind dabei die komparatistischen Perspektiven, die Bregoli in diesem letzten Kapitel stark macht. So blickt sie einerseits auf Frankreich, andererseits auf die zuerst von Lois Dubin thematisierten "Port Jews" im ebenfalls habsburgischen, dennoch aber in andere politische Zusammenhänge eingebundenen Triest. Das Ergebnis zeigt, dass Juden in Livorno erreichen, was sie in Frankreich nur anstreben, nämlich ihren korporativen Status nie ganz aufzugeben, und dass sie nach der Niederlage Napoleons sogar die Wiederherstellung ihrer alten Rechte durchzusetzen wussten (246). Gleichzeitig wird den Juden Livornos - im Unterschied zu anderen toskanischen Juden - gerade wegen ihrer privilegierten Situation auch von christlicher Seite ihre Emanzipation als Individuen bis 1796 verweigert (225). So ergibt sich für Livorno ein neues Modell, das sich sowohl von demjenigen aschkenasischer Juden als auch von demjenigen "klassischer" Sefardim unterscheidet, wie der Vergleich mit Triest und den "Port Jews" deutlich macht. In diesem Modell werden Privilegien der Emanzipation nicht förderlich, sondern hinderlich, wie Bregoli selbst am Ende ihres letzten Kapitels hervorhebt: "In the early modern period, the 'nazione ebrea' had reaped great benefits from the successful mercantilist policies that defined the port of Livorno. At the onset of 'modernity', however, its privileged status as a useful mercantile Jewish community [...] turned out to be a force for conservatism that, while preserving time-honored structures and norms, prevented the full application of reforming and equalizing policies." (238)
"Mediterranean Enlightenment" ist aus mehreren Gründen ein wichtiges Buch. Beachtlich ist zum einen die Vielfalt von Perspektiven aus der Gelehrten-, Wissenschafts-, Universitäts-, Medien-, Wirtschafts- und Politikgeschichte, die Bregoli zur Beantwortung ihrer großen Fragen einbringt und die sie alle gründlich einführt, bevor sie zu ihren eigentlichen Diskussionen kommt. Diese Einführungen machen das Buch bisweilen etwas dicht und seine Lektüre nicht immer einfach. Sie ermöglichen aber, dass sich einzelne Kapitel auch separat zur Durchdringung von zum Teil wenig beforschten Themengebieten heranziehen lassen, während die Autorin gleichzeitig ihren Leserinnen und Lesern dadurch entgegenkommt, dass sie wichtige Punkte kontinuierlich hervorhebt und wiederholt. Zum anderen gelingt es Bregoli in der Tat, ihrem Anspruch gerecht zu werden und Konstellationen zu erörtern, die einen neuen Blick auf scheinbar bekannte Zusammenhänge ermöglichen. Nicht zuletzt durch die Vergleiche, die Bregoli trotz oder gerade wegen der Einzigartigkeit der "nazione ebrea" in Livorno immer wieder anstößt, wird dabei viel Raum zum Weiterdenken geöffnet. So ist "Mediterranean Enlightenment" nicht nur ein hochgradig informatives, sondern auch ein anregendes Buch, das Fragen ebenso beantwortet wie generiert und das nicht nur für die Jüdischen Studien, sondern auch für die allgemeine Aufklärungs- und Frühneuzeitforschung ein Gewinn ist.
Sina Rauschenbach