Corinna R. Unger: Entwicklungspfade in Indien. Eine internationale Geschichte 1947-1980, Göttingen: Wallstein 2015, 319 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1754-3, EUR 34,90
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Die Entwicklung Indiens war als positives Konzept gedacht. Das Land sollte nach dem Ende der Kolonialzeit endlich sein Potential entfalten und die multiethnische, -linguale und -religiöse Bevölkerung zu einer Nation verschmelzen. Inwieweit dieses Vorhaben geglückt oder gescheitert ist, ist Gegenstand einer anhaltenden Diskussion. Denn zu Recht gilt Indien als das Entwicklungsland schlechthin: In absoluten Zahlen ist es das Land der Superlative hinsichtlich der Zahl der Analphabeten, Armen, Unterernährten und Unterprivilegierten. Es wurde deshalb zu einem Labor, in dem viele Entwicklungskonzepte ausprobiert, angepasst und teils auch wieder verworfen wurden. Wie schwierig dergleichen bei einer Gemengelage von "Rückständigkeit" in vielen Bereichen in einem politischen Spannungsfeld mit vielen Interessen sein kann, darüber gibt dieses Buch höchst kompetent Auskunft.
Corinna Unger, seit kurzem Professorin für globale und koloniale Geschichte an der Europäischen Universität Florenz, hat sich einen Namen in Sachen Indien und Entwicklungspolitik gemacht. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die landwirtschaftliche Entwicklung, die Industrialisierung und die Stadtentwicklung. Dabei grenzt sie sich bewusst von der Praxis ab, eine Geschichte der Entwicklungspolitik "von oben" zu schreiben. Wie sie mehrfach im Detail darlegt, übersieht eine Fokussierung auf staatliche Stellen den Einfluss, den die "zu Entwickelnden" auf die jeweiligen Programme nahmen, indem sie Teile ablehnten, modifizierten oder aber mit eigenen Initiativen bereicherten.
Das erste Großkapitel, das sich mit der ländlichen Entwicklung befasst, geht zunächst auf Genossenschaften ein. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten britische Kolonialbeamte eine Orientierung am deutschen Raiffeisen-Modell propagiert, das nach dem Ersten Weltkrieg prägend wurde. Die Vorstellung einer organischen Entwicklung von unten fügte sich in Gandhis Konzept eines Indiens der Dörfer, die sich im Wesentlichen selbst verwalteten. Die Genossenschaften sorgten zwar für ein langsames Wachstum, konnten aber nicht den Nahrungsmittelbedarf der schnell wachsenden Bevölkerung decken.
Abhilfe sollte das Community Development Programme schaffen, das den Ausbau der Infrastruktur, Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft und einen verbesserten Zugang zu Bildungsangeboten in den Blick nahm. Die Regierung setzte auf die Entwicklung von Modellbezirken und -farmen, wobei wesentliche Anregungen vom amerikanischen New Deal kamen. Dementsprechend rückt Unger die Aktivitäten der Rockefeller und der Ford Foundation in den Vordergrund, die sich auf einem neuen Wirkungsfeld etablierten, das internationale Aufmerksamkeit versprach. Allerdings hielten sich auch die Erfolge des Community Development Programme in Grenzen, weshalb Delhi lange anhaltendem amerikanischem Druck nachgab und in den sechziger Jahren die Grüne Revolution einleitete, die zwar endlich die erhoffte Versorgung der Bevölkerung sicher stellte, zugleich aber die soziale Ungleichheit auf dem Lande zementierte.
Priorität hatte für die Regierung Nehru zunächst die Industrialisierung des Landes. Ein schneller Ausbau von Schwerindustrie und Infrastruktur sollte es Indien erlauben, innerhalb weniger Jahrzehnte den Vorsprung der Industrieländer deutlich zu verkürzen. Hier rückt das Stahlwerk Rourkela in den Blickpunkt, das für die bundesdeutsche Schwerindustrie zunächst ein vielversprechendes Geschäft und Aushängeschild war, die Firmen wie die indischen Auftraggeber aber bald vor eine Fülle komplexer Probleme stellte. Das Stahlwerk wurde z.B. in einem Gebiet aus dem Boden gestampft, das von sogenannten Ureinwohnern - Adivasis - besiedelt war. Diesen wurden im Gegenzug für die Umsiedlung Beschäftigung im Werk und eine deutliche Hebung des Lebensstandards versprochen. Letztlich fanden sie Lohn bestenfalls als Hilfsarbeiter, während die besser bezahlten Positionen von Indern aus anderen Regionen des Landes eingenommen wurden.
Die drei Städte, die die Autorin in den Blick nimmt, stehen für drei unterschiedliche Phasen und Konzepte indischer Politik. Chandigarh, die von Le Corbusier erbaute Hauptstadt des Punjab, hatte vor allem repräsentativen Charakter, war aber weitgehend an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei konzipiert worden. Rourkela dagegen sollte eine Musterstadt für die Arbeiter und Angestellten des Stahlwerks werden. Angesichts der Spannungen zwischen religiösen Gruppen und Sprachgemeinschaften innerhalb der Arbeitnehmerschaft wurde Rourkela nicht wie erhofft zum sozialen Schmelztiegel eines neuen Indien. Es bildeten sich vielmehr segregierte Viertel gemäß Herkunft und Religion heraus. Kalkutta wiederum wurde bald zum Synonym für das Elend der Dritten Welt. In den sechziger Jahren stand es angesichts unkontrollierter Zuwanderung sowie politischer und wirtschaftlicher Krisen vor dem Kollaps. Dem jahrzehntelangen umfassenden Engagement von amtlichen Stellen, Stiftungen, NGOs und Bewohnern ist es zu verdanken, dass die Not zumindest gelindert werden konnte.
Das Plädoyer Ungers, Entwicklungsgeschichte stärker als eine Geschichte des Wissens und der Wissensvermittlung zu verstehen, ist überzeugend. Wissen besteht nicht nur aus von Theoretikern entworfenen Konzepten, die möglichst eins zu eins in der Praxis umgesetzt werden sollen, sondern wird hier ergänzt durch "populäres Wissen", die einfachen Lösungen, auf denen z.B. das Raiffeisen-Modell basiert. Das besondere Augenmerk der Verfasserin gilt dem "funktional aggregierten Wissen", das aus der Erfahrung bei der Anwendung wissenschaftlicher Konzepte in individuellen Räumen und Gesellschaften entsteht.
Ein kleines Fragezeichen darf man hinter den Anspruch stellen, hier eine internationale Geschichte vorzulegen. Das Kapitel zur Landwirtschaft fokussiert stark auf die USA, das zur Industrialisierung auf die Bundesrepublik. Der jeweilige indische Beitrag ist - sicherlich auch angesichts der schwierigen Quellenlage - zu kurz gekommen. Schließlich fehlen zwei weitere wichtige staatliche Akteure. Dass sich die indische Entwicklungspolitik, insbesondere die Planungskommission, stark an sowjetischen Ideen orientierte, wird zwar erwähnt. Wie diese bei den hier untersuchten Sachverhalten aussahen, wird aber bestenfalls kursorisch erläutert. Gerade im Falle des sowjetischen "Konkurrenz-Stahlwerks" Bhilai hätte sich eine Gegenüberstellung aufgedrängt. Dass es angesichts der aus der Kolonialzeit stammenden Verflechtung der indischen mit der britischen Wirtschaft auch hier staatliches und nicht-staatliches entwicklungspolitisches Engagement mitsamt gewachsener Kompetenz gab, wird gänzlich übergangen.
Es wäre allerdings auch illusorisch zu erwarten, dass sich ein so großes Thema in toto abhandeln ließe. Corinna Ungers Buch bietet nicht nur bestechend im Detail recherchierte Einzelfälle und vorbildlich ausgewogene Urteile, sondern auch wertvolle Denkanstöße, die weit über das eigentliche Thema hinaus weisen. Da die Verfasserin zudem über die Fähigkeit verfügt, komplexe Zusammenhänge schlüssig zu erklären, ohne dabei an Schärfe der Argumentation einzubüßen, ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag auf einem Forschungsfeld, das von vielen Historikern eher stiefmütterlich behandelt wird.
Amit Das Gupta