Patrizia Carmassi / Gisela Drossbach (Hgg.): Rechtshandschriften des deutschen Mittelalters. Produktionsorte und Importwege (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 29), Wiesbaden: Harrassowitz 2015, 415 S., 48 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10293-3, EUR 98,00
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Rosalind Brown-Grant / Patrizia Carmassi / Gisela Drossbach u.a. (eds.): Inscribing Knowledge in the Medieval Book. The Power of Paratexts, Berlin: De Gruyter 2020
Gisela Drossbach: Christliche caritas als Rechtsinstitut. Hospital und Orden von Santo Spirito in Sassia (1198-1378), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005
Gisela Drossbach / Hans-Joachim Schmidt (Hgg.): Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikation und Raumstrukturen im Mittelalter, Berlin: De Gruyter 2008
Mit diesem Sammelband, der auf ein Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel (27.-29. Juni 2011) zurückgeht, möchten die Herausgeberinnen auf "eine Perspektive des Kulturaustausches, der menschlichen Mobilität und der gelehrten Kommunikation aufmerksam machen" (9), wobei Schwerpunkte zum einen auf kanonistischen Handschriften und zum andern auf Handschriften der Universitätsbibliothek Halle liegen, die aus Halberstadt stammen. Die recht unterschiedlichen Beiträge, deren Inhalte hier nur kurz angedeutet werden können, bieten in der ersten Sektion unter dem allgemeinen Titel "Rechtskultur im Hoch- und Spätmittelalter" "Statistiken über die handschriftliche Verbreitung juristischer Texte in Sachsen" (Gero Dolezalek, 21-38), aber auch eine eingehende Beschreibung und Einordnung der "Mittelalterliche[n] Rechtshandschriften aus dem Raum Trier" (Michael Embach, 39-69). Sie stellen den Stadtschreiber Gerwin von Hameln (gest. 1496) als Sammler und Benutzer juristischer Literatur vor (Bertram Lesser, 71-105: "Von Leipzig nach Niedersachsen") und betrachten (Vincenzo Colli, 107-134) die juristischen Inkunabelbestände aus der Halberstädter Dombibliothek in Halle.
In der zweiten Sektion geht es um "Transferbewegungen und Schulen", wobei bedauerlicherweise der überleitende Abendvortrag von Martin Brett ebensowenig in den Band aufgenommen wurde (15) wie die Untersuchung von Tilmann Schmidt zum Liber Sextus und die in der Einleitung erwähnte "Schlusszusammenfassung" von Christoph H. F. Meyer. Im Zentrum der "Transferbewegungen" steht die Dombibliothek Halberstadt, deren Handschrift (heute) Halle Ye 2° 52 gleich zwei Beiträge gewidmet sind. Peter Landau (137-146) stellt ihre mögliche Verbindung zu dem Bologneser Kanonisten Johannes Teutonicus (sehr wahrscheinlich identisch mit dem Halberstädter Dompropst Johannes Zemeke) heraus, hält jedoch für die ebenfalls in dieser Handschrift enthaltenen "Pionierwerke der französischen Dekretistik" eine von diesem unabhängige Übermittlung nach Halberstadt eher für denkbar. Tatsushi Genka (147-165) legt durch seine minutiöse Untersuchung der Summa permissio quedam in ihrem überlieferungsgeschichtlichen Kontext nahe, dass die Hallenser Handschrift über Italien nach Deutschland gelangte, während ihre gemeinsame "Ahnenhandschrift" mit der Bamberger Handschrift, Staatsbibliothek, Can. 17, sich wohl einmal in Nordfrankreich befand. Patrizia Carmassi trägt Beobachtungen zum Wirken des Johannes Teutonicus als "Handschriftenstifter in der Halberstädter Kirche" zusammen und stellt Verbindungen zwischen den theologischen Inhalten in den kanonistischen Schriften Zemekes und den Darstellungen im Halberstädter Missale her (167-188). Nach Ansicht von Gisela Drossbach (189-208) ist der Vergleich zweier Dekretalensammlungen, der Collectio Halensis der Hs. Halle, ULB, Ye 2° 80, und der Collectio Monacensis (München, Staatsbibliothek, clm 8302), lohnenswert, da beide Sammlungen wohl aus einem gemeinsamen Dekretalen-Pool, der "in Oberitalien kreiste", geschöpft hätten und gezielt für ihre Bestimmungsorte angelegt worden seien: die Hallenser Sammlung für einen "nördlichen schulischen Betrieb", diejenige aus München. "eventuell für eine nordalpine klösterliche Institution" (206).
In der dritten Sektion "Autoren, Werke und Überlieferungen" stellt Abigail Firey am Beispiel der Hs. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1062 Helmst., eines unterschiedlich datierten, jedoch zum Großteil karolingische Texte (darunter v.a. die Collectio Dacheriana) überliefernden Codex, den Rekurs auf römisch-rechtliche Texte in der Karolingerzeit fest (211-243) und möchte dies als Diskussionsbeitrag zur Bedeutung des römischen Rechts im früheren Mittelalter verstanden wissen. Im Anhang bietet sie daraus die Auszüge aus der Epitome des Aegidius und ein Incipit-Explicit-Verzeichnis der von ihr so genannten Sententiae de monachis, einer kleinen, bisher nicht vollständig zur Kenntnis genommenen Sammlung. Vor dem Hintergrund der schwierigen Überlieferung der weit verbreiteten Kanones des III. Laterankonzils, an dem anscheinend auch der Bischof von Halberstadt teilnahm (245) geht Danica Summerlin (Using the canons of the 1179 Lateran Council, 245-260) der Frage nach, welche Verbindung zwischen deren Überlieferung und der Benutzung der Kanones durch Prälaten in England und Frankreich bestand. Die Hauptverbindung für die bis in die späten 80er Jahre des 12. Jahrhunderts verzögerte Rezeption wurde über magistri und päpstliche Legaten hergestellt.
Neben den zahlreichen Halberstädter Handschriften mit kanonistischen Inhalten stellt Susanne Lepsius Schriften des Bartolus von Sassoferrato in je zwei Handschriften aus Halberstädter Beständen vor (261-283). Aufgrund des Überlieferungszusammenhangs und des Vergleichs mit anderen Halberstädter Handschriften kommt sie zu dem Schluss, dass man dort nicht an dem einflussreichen Juristen interessiert war, sondern die beiden Handschriften des Traktats De insigniis et armis eher den erstaunlich selbstverständlichen Umgang mit Wappen durch Weltkleriker des Spätmittelalters belegen, die "in einer adligen Standesgesellschaft agieren" (280). Mit seinen "Überlegungen zu einem qualifizierten Überlieferungsbild der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra)" (285-302) bietet Martin Bertram als bester Kenner der Liber-Extra-Überlieferung einen Einblick in die mit ca. 700 Vollhandschriften (davon 80 % in den Jahren von 1250 bis etwa 1370/80) umfangreiche, jedoch zugleich auch einheitliche Überlieferung eines der verbreitetsten Rechtsbücher des Mittelalters. An Halberstädter Beispielen und auch im Allgemeinen erläutert er sehr anschaulich die methodischen Schwierigkeiten, mit denen man sich bei ihrer Erschließung konfrontiert sieht, wobei die Erfassung der Fragmente besondere Probleme aufwirft.
Susan l'Engle (305-319) als Spezialistin für illuminierte Handschriften berichtet in der vierten Sektion ("Mediale Aspekte der Überlieferung") aus einem aktuellen Projekt, das der Benutzung von mittelalterlichen Rechtshandschriften durch "deutsche" Studenten gewidmet ist und stellt einige Beispiele vor, darunter die Halberstädter Hss. Halle Ye 2° 31 und Ye 2° 48. Ihre "preliminary study" erbrachte u.a. das noch überwiegend auf Sekundärliteratur basierende, überraschende Ergebnis, dass im 13. und frühen 14. Jahrhundert deutsche Studenten in Bologna und Padua die benutzten Handschriften nicht in ihre Heimat mitnahmen, sondern solche Handschriften erst im 15. Jahrhundert in die deutschen Territorien gelangten. Wie bereits von Bertram und L'Engle betont, zeigt auch Susanne Wittekind in ihrem reich bebilderten Beitrag, der Besitz und Weitergabe illuminierter Rechtshandschriften in Katalonien analysiert (321-362), dass gerade der Buchschmuck Hinweise auf die Entstehungsumstände einer Handschrift bieten kann. Sie führt jedoch auch Beispiele dafür an, dass Illuminationen ein- und derselben Handschrift nicht nur einer Werkstatt, sondern unterschiedlichen Zentren entstammten. Auf der Grundlage von Barceloneser Dokumenten stellt sie im Anhang die Zahl der Handschriften pro Werk und zum Teil auch die Kaufpreise zusammen. Durch eine genaue Untersuchung der beiden Hallenser Gratianhandschriften Ye 2° 36 und Ye 2° 51 sowie der Herkunft und Verbreitung der anderen Textzeugen der Σ -Gruppe, verbunden mit Beobachtungen zu Reisewegen von Personen und Büchern zwischen Halberstadt und Nordfrankreich kommt John Wei (363-383) zu dem Schluss, dass beide Codices mit großer Wahrscheinlichkeit im nördlichen Frankreich entstanden sind.
Der reiche Band, der Beiträge von exzellenten Kennern mittelalterlicher Rechtshandschriften enthält, belegt eindrucksvoll die Ergiebigkeit systematischer Handschriftenstudien aus inhaltlicher ebenso wie aus archivalischer, kodikologischer und kunstgeschichtlicher Sicht, zeigt jedoch auch, wie schwierig es ist, zu sicheren Erkenntnissen im Hinblick auf die Entstehung und weitere Geschichte von Handschriften zu kommen. Hinzuweisen ist noch auf die farbigen Abbildungen im Anhang, die zu den Beiträgen von Embach, Lesser, Carmassi, Drossbach, Firey und Wittekind gehören, sowie auf die Erschließung des Bandes durch ein Personen-, Orts- und Handschriftenregister.
Lotte Kéry