Rezension über:

Anika Walke: Pioneers and Partisans. An Oral History of Nazi Genocide in Belorussia, Oxford: Oxford University Press 2015, XXI + 317 S., ISBN 978-0-19-933553-4, GBP 47,99
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Rezension von:
Kerstin Baur
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Kerstin Baur: Rezension von: Anika Walke: Pioneers and Partisans. An Oral History of Nazi Genocide in Belorussia, Oxford: Oxford University Press 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28445.html


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Anika Walke: Pioneers and Partisans

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In ihrer 2015 vorgelegten Monografie beschäftigt sich Anika Walke mit den Erinnerungen jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Minsk und dem östlichen Weißrussland während des Holocaust. Sie greift damit den Forschungstrend auf, Kriegskindheiten wissenschaftlich zu untersuchen. Seit dem Ende der UdSSR 1991 und der damit einhergehenden Öffnung der Archive haben Forscher Basiswerke über den Holocaust in den besetzten sowjetischen Gebieten vorgelegt. [1] Dennoch ist es gerade die Perspektive der Opfer, die trotz der bemerkenswerten Fortschritte oft noch unterbelichtet ist. Walke erforscht die Kriegserfahrungen belarussischer Juden mithilfe von Interviews, die sie vornehmlich in den 2000er Jahren durchgeführt hat. Biografische Interviews könnten Verarbeitungsstrategien und Identifikationsmuster sowjetischer Holocaustüberlebender offenlegen. Dies ist vor allem deshalb interessant, weil sich die individuellen Reaktionen aufgrund der sowjetischen Sozialisation von denjenigen Holocaustüberlebender anderer europäischer Regionen unterschieden. Essenziell ist dabei die Frage, warum diese Überlebenden trotz der Marginalisierung ihrer Erfahrungen und staatlichem Antisemitismus nicht vollständig mit dem sowjetischen System brachen. In diesem Sinne ist Walkes Studie nicht nur eine Arbeit über den Nexus zwischen Erfahrung und Erinnerung, sondern kann durchaus gemeinsam mit neueren Beiträgen zur Transformation jüdischer Identitäten in der Sowjetunion gelesen werden. [2]

Nach einer methodologischen Einführung und einem Abschnitt über die Transformation jüdischer Lebenswelten in der UdSSR vor dem Zweiten Weltkrieg beschreibt die Autorin in vier Kapiteln den Leidensweg ihrer Gesprächspartner vom Einmarsch der Nazis, den Massenmord, dem Ghettoalltag bis hin zu verschiedenen Überlebensstrategien. In einem Fazit reflektiert sie zudem darüber, welche Faktoren das Nachkriegsschicksal der Protagonisten beeinflussten.

Den in den 1930er Jahren aufgewachsenen Juden ist, so Walke, im Unterschied zu früheren Generationen ihre sowjetische Identität wichtiger als die religiösen Bräuche und traditionellen jüdischen Lebensweisen. Eine positive Beziehung zu sowjetischen Werten, wie dem Internationalismus, ermöglichte es den Kindern und Jugendlichen, sich als gleichwertig mit der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung zu verstehen. Zwar säkularisierten und assimilierten sich die sowjetischen Juden dynamisch, doch nicht vollständig. Gerade in ländlicheren Räumen blieben substanzielle Inseln jüdischer Lebenswelten erhalten; zudem sind es gerade die älteren Generationen, die teilweise an ihrer jüdischen Welt festhalten. Walke kommt damit zu ähnlichen Ergebnissen wie Jeffrey Veidlinger bei seinem Zeitzeugenprojekt "In the Shadow of the Shtetl", in dem der Autor die ideologische Durchdringung der sowjetischen Peripherie vor dem Zweiten Weltkrieg als nicht vollständig konstatiert. Den Kriegsbeginn beschreibt Walke als das "Ende der Kindheit" (67), das häufig mit dem Verlust der Fürsorgeperson einherging. Im Gegensatz zu Männern stuften die Nationalsozialisten Kinder und Frauen häufig als arbeitsunfähig ein. Dies machte sie mit großer Wahrscheinlichkeit zu Opfern der Erschießungsaktionen. Ausschlaggebend für die individuelle Gewalterfahrung konnten also sowohl Alter als auch die Kategorie "gender" sein. Die Untersuchung zeigt, dass sich die Kinder durch ihre nicht-jüdischen Netzwerke, die sie zum Beispiel im sowjetischen Schulsystem aufbauten, und ihre physisch bedingte Mobilität zumindest temporär außerhalb des Ghettos in Sicherheit bringen konnten.

Die Flucht zu einer sowjetischen Partisaneneinheit präsentiert Walke als wichtigste Überlebensstrategie der weißrussischen Juden. Dort jedoch zeigte sich die Schwäche der sozialen sowjetischen Konzepte: Statt Völkerfreundschaft herrschte zum Teil starker Antisemitismus. Der Überlebende Leonid Gol'braikh etwa verheimlichte deswegen seine jüdische Identität (132). Auch wenn der Antisemitismus nach 1943 eine geringere Rolle spielte, blieben aus dem Ghetto geflohene Heranwachsende und Frauen aufgrund ihrer angeblichen Gefechtsunfähigkeit am häufigsten stigmatisiert und von sexistischen Stereotypen betroffen. In dezidiert jüdischen Partisaneneinheiten, denen Walke ein ganzes Kapitel widmet, konnten die Mitglieder Antisemitismus und Sexismus entgehen. Meist teilten sie die Erfahrung, bereits etliche Familienangehörige verloren zu haben. Dies stiftete imaginierte Familienbande und Freundschaften mit Gleichaltrigen, beides hatte einen erheblichen Anteil am Überleben von Kindern.

Trotz des jahrelangen Überlebenskampfes im Wald sprach der Staat Angehörigen dieser sogenannten Familiencamps nach dem Krieg keinen Veteranenstatus zu. Die konservative Sexualmoral der Nachkriegszeit führte zu einer weitgehenden Tabuisierung spezifisch weiblicher Erfahrungen. Die Überlebenden wuchsen nach dem Krieg häufig als Waisen auf, ihre individuelle Kriegserfahrung wurde zudem nicht anerkannt. Diese Erfahrung teilen Walkes Gesprächspartner mit den meisten direkten Holocaustüberlebenden in der Sowjetunion.

Doch hätten sich, so die Autorin, sowjetische Juden nach Kriegsende so bereitwillig Redeverboten und Schweigegeboten unterworfen, weil sie sich hochgradig mit dem sowjetischen Kampf gegen Nazideutschland und dessen Nachkriegsrepräsentationen identifizieren konnten (163). Das andauernde Spannungsverhältnis zwischen jüdischer Selbstidentifikation und sowjetischem Internationalismus habe erst nach 1991 zu einer wesentlichen Rückbesinnung auf die jüdische Traditionen geführt. Allerdings kommen in der vorliegenden Studie fast keine Überlebenden zu Wort, die die UdSSR bzw. ihre Nachfolgestaaten in einer der großen Auswanderungswellen verlassen haben. Es ist also fraglich, ob das als verhältnismäßig stabil beschriebene Verhältnis zur Sowjetunion auch zutreffen würde, wenn ausgewanderte Juden befragt worden wären.

Die große Stärke von Anika Walkes Arbeit ist es, dass sie minutiös die Wechselwirkungen zwischen Erfahrung und Erinnerung in einem erinnerungskulturell stark aufgeladenen Raum seziert. Sie bettet den Holocaust lebensgeschichtlich ein und lokalisiert ihn in einem spezifischen geografischen Rahmen. Gleichzeitig gibt sie genau denjenigen Opfergruppen eine Stimme, deren traumatische Kriegserfahrungen und Verluste über Jahrzehnte hinweg in ihrer Heimat marginalisiert wurden.


Anmerkungen:

[1] Das trifft vor allem für die beiden Standardwerke von Y. Arad und I. Al'tman zu: Yitshak Arad: The Holocaust in the Soviet Union, Lincoln 2009; Il'ja Al'tman: Žertvy nenavisti. Cholokost v SSSR. 1941-1945, Moskva 2002.

[2] Vgl. etwa: Jeffry Veidlinger: In the Shadow of the Shtetl. Small-Town Jewish Life in Soviet Ukraine, Bloomington 2013; sowie Elissa Bemporad: Becoming Soviet Jews. The Bolshevik Experiment in Minsk, Bloomington 2013.

Kerstin Baur