Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016, 983 S., ISBN 978-3-406-68386-2, EUR 34,95
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"Hier liegt, für seinen Ruhm zu spät,
Der Don Quixott' der Legitimität,
Der Wahr und Falsch nach seinem Sinne bog,
Zuerst die Andern, dann sich selbst belog,
Vom Schelm zu Toren ward bei grauem Haupte,
Weil er zuletzt die eignen Lügen glaubte."
In diesem als (vorzeitige) Grabinschrift getarnten Pasquill auf Clemens Fürst von Metternich aus der geistreich-spitzen Feder des Dichters Franz Grillparzer, geschrieben im Jahr 1839, als der Staatskanzler schwer erkrankt war (und der von der Zensur sekkierte und ohnehin zu Morosität neigende Grillparzer etwas pietätlos dessen Ableben erhofft haben mochte), verdichtet sich virtuos das Bild des österreichischen Staatskanzlers, wie es dann nahtlos von den Zeitgenossen auf die Nachwelt übergegangen ist und sich mit unterschiedlichen Schattierungen, aber im Kern unverändert, über mehr als ein Jahrhundert in der Geschichtsschreibung gehalten hat. Die prägenden Kategorien, unter denen die Figur von den meisten Historikern des 19. und auch noch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt wurde, waren ihre fundamentale Unzeitgemäßheit, ihr Unverständnis für die machtvoll aufkommenden zukunftsgestaltenden Tendenzen der eigenen Epoche, ihre Politik der klügelnd-finassierenden Manipulation, der skrupellosen Intrige und Täuschung, schließlich das starre Festhalten an diesem längst überlebten Stil und Verständnis von Politik bis an die Grenzen des Grotesken (und darüber hinaus). Als ihn zuletzt, schon tief im neuen Zeitalter der Emanzipation und Partizipation, der liberalen und nationalen Ideen, der Industrie und entstehenden Klassengesellschaft stehend, die Revolution von 1848 aus dem Amt fegte, war Metternich eine bei aller höfischen Feinheit und Eleganz belächelte, weil lächerlich überlebte Figur, - eben jener 'Ritter von der traurigen Gestalt', den Grillparzer in seinem Epitaph evozierte. Mit dem von den historisch siegreichen Vertretern des Liberalismus und des nationalen Machtstaats verachteten 'Metternichschen System' aus Unterdrückung und Zukunftsverweigerung war auch dessen Schöpfer (oder zumindest Namensgeber) bleibend in Verruf geraten.
Wolfram Siemann erwähnt in seiner lange erwarteten Biografie des österreichischen Staatsmannes das reizvolle Grillparzersche Aperçu nicht - und doch ist es genau das darin gezeichnete negative Metternich-Bild, das dem Münchener Historiker als kontrastierende Referenz, als Folie, als Herausforderung und Auftrag für sein eigenes biografisches Unternehmen dient. Und nirgendwo findet Siemann das Stereotyp des verkannten und verzeichneten Metternich schärfer, schonungsloser und in seiner Gesamtheit schiefer ausgebildet als bei seinem gewichtigsten Vorgänger, dem letzten Verfasser einer großen Metternich-Biografie, Heinrich von Srbik. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Siemann dem 1925 erschienenem Opus Srbiks, "einem zweibändigen Gebirge von 1431 Seiten, [von dem] kaum jemand [...] jede Zeile gelesen" habe, nun sein eigenes Werk dezidiert kritisch-programmatisch entgegenstellt. Wobei freilich auch Siemanns monumentaler 'Metternich' - um bei der Metaphorik zu bleiben - mit seinen 900 Seiten ein gewaltiges Bergmassiv darstellt, das nicht jeder Leser in allen seinen Schlüften und Schlünden durchstreifen wird. Siemann widmet der Kritik an dem 'gesamtdeutsch' und am Ende wohl 'großdeutsch' denkenden österreichischen Historiker einen längeren Abschnitt seines einleitenden Kapitels, in welchem er mit Verve die ideologisch bedingten Defizite und Schlagseiten von Srbiks Metternich-Bild aufweist. Die der professionellen Geschichtswissenschaft seit je vertraute Tatsache der unentrinnbaren Standpunktabhängigkeit auch des um 'Objektivität' bemühten Geschichtsforschers (was Srbik nicht war und im strengen Sinne wohl auch nicht sein wollte) wird an Srbiks 'Metternich' schlagend exemplifiziert. Das von Nietzsche und Spengler geprägte Menschen- und Geschichtsbild Srbiks - das zum Nationalsozialismus passte, aber nicht aus diesem kam, sondern ihm vorgängig war und wie dieser dem völkisch-biologistischen, die herrische Tat vor das humane Recht setzenden Zeitgeist entstammte, der sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland herausgebildet hatte - schlug sich, wie Siemann überzeugend darlegt, in einer Vielzahl von Missverständnissen, Fehleinschätzungen, Fehlurteilen und hemmungslos subjektiven Verzeichnungen Metternichs und seiner Politik nieder. Doch es sind "nicht allein Einzelheiten, die der Korrektur bedürfen", schreibt Siemann, seine Kritik bilanzierend: "Was das Werk Srbiks beim heutigen Wissensstand hochproblematisch macht, ist die Webart insgesamt, seine zugrunde liegende ideologische Textur, welche unmittelbar auf die Deutung seiner Hauptfigur abfärbt."
Die 'Webart' oder 'ideologische Textur' der Siemannschen Metternich-Biografie nun ist in der Tat eine fundamental andere. Siemann fühlt sich der 'vierten Generation' von Metternich-Biografen verbunden, die vor dem Erfahrungshintergrund der deutschen Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs das Paradigma des Nationalismus und der konkurrierenden Nationalstaaten als Telos der Geschichte überwunden hat und "an Metternich [...] den Europäer, den Meister der internationalen Gleichgewichtspolitik und den Friedensstifter" hervorhebt. Im Lichte dieses Ansatzes hatte in der Geschichtswissenschaft der alten Bundesrepublik ja bereits der Deutsche Bund, von der kleindeutschen Geschichtsschreibung so wenig geschätzt wie sein Schöpfer Metternich, als kollektive Friedensordnung für Mitteleuropa eine gewisse Rehabilitierung erfahren. Wolfram Siemann, der den größten Teil seines wissenschaftlichen Œuvres der Epoche zwischen 1800 und 1866 gewidmet hat, setzt den Weg dieser Geschichtsdeutung nun konsequent fort, wenn er sein Metternich-Buch in eigener Formulierung unter das Motto "Metternich and Europe: revisited" stellt.
Und ein in diesem Sinne 'revisionistisches' Werk ist dieses Buch tatsächlich. In unzähligen Detailaspekten wie im Gesamten der politischen Leistung des österreichischen Staatskanzlers modifiziert, korrigiert und ergänzt es das bisher von der Metternich-Forschung gezeichnete Bild - und wendet es dabei durchgängig ins Positive. Dies geschieht nicht etwa beiläufig und nebenher, sondern erklärtermaßen und in einbekannter Absicht: Revision ist die leitende Idee des ehrgeizigen Vorhabens. Siemann tut das und kann das tun mit dem Selbstbewusstsein dessen, der in souveräner Kenntnis der Forschungsliteratur und mehr noch durch die Erschließung umfangreicher, von ihm erst neu entdeckter oder jedenfalls bisher (auch von Srbik!) nicht ausgewerteter archivalischer Quellen ein ganz neues und ungleich tragfähigeres Fundament für eine tiefer eindringende und differenzierte Beurteilung seines Gegenstandes gelegt hat. Das Ergebnis ist ein von vielen Vorurteilen und Verzeichnungen geläutertes Bild dieses Staatsmanns, ist ein rehabilitierter Metternich. Weil Siemann den Mann in seinen Facetten besser kennt als vermutlich alle vor ihm, will er ihn auch besser verstehen - 'einfühlendes Verstehen' war schließlich die Maxime, mit der die Geschichtsschreibung sich im Historismus methodisch professionalisiert hat. Und wer alles versteht, kann vieles verzeihen.
Der Leser des Buches gewinnt denn auch den Eindruck - und Siemanns ganze Erzählung steht offen dafür ein -, dass der Autor seinem Helden mit reflektiertem Wohlwollen und grundständiger Sympathie gegenübersteht. Die Frage, ob er sich von dieser Sympathie an mancher Stelle nicht auch zu weit hat dahintragen lassen, wird sich der Leser dieses Buches wohl stellen, aber keiner wird sie schlüssig entscheiden können. Denn auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus wird es niemanden geben, der über den Menschen und den Politiker Metternich so viel Wissen zusammengetragen und vor uns ausgebreitet hat wie dieser Biograf. Dabei lässt Siemann den Leser mit dem Gefühl, der Biografierte könne vom wohlwollenden Verständnis seines Erforschers gelegentlich doch mehr profitiert haben, als er verdient hätte, nicht allein. Der Autor selbst bringt in seinem Nachwort den möglichen Verdacht der Befangenheit kritisch zur Sprache und versichert uns sogleich, dass dem gewiss nicht so sei.
Wer sich einlässt auf dieses Werk, das in seinem Gehalt weit hinausgeht über das Genre der Biografie, wird ein ebenso aspektereiches und differenziertes wie farbiges Bild nicht nur des beschriebenen Mannes, sondern einer ganzen Epoche geboten bekommen - von den weltgeschichtlichen Ereignissen der napoleonischen Ära ohnehin (zwei Drittel des Werks etwa gehören der Zeit bis 1820), aber auch zu Herkunft und Aufstieg der Familie des Porträtierten, zu seiner Prägung durch Ancien Régime und Aufklärung, zur Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte des Reichsadels, zur dynastischen Singularität und zum inneren Aufbau des Habsburgerreichs, den Metternich reformieren wollte ... Kurz, es ist eine Art histoire totale Metternichs und seiner Zeit, stets abwägend in den Urteilen, plastisch und präzise in der Sprache - ein beeindruckendes Beispiel methodisch analytischer, materiell höchst gediegen fundierter und erzählend ausgreifender Geschichtsschreibung.
Nur einen kleinen irritierten Einwurf will sich der Rezensent nicht verkneifen: Die semantisch-stilistische Entgleisung in der Vokabel des "Frauenverstehers", prominent in der Überschrift des IX. Großkapitels platziert, würde er jedem seiner Studenten schon aus einer Seminararbeit glatt herausgestrichen haben. Aber das wäre auch alles, was er an diesem reifen Opus magnum aussetzen könnte.
Franz J. Bauer