John Dieter Brinks: Harry Graf Kessler (= Leben in Bildern), Berlin: Deutscher Kunstverlag 2015, 96 S., 52 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-07294-7, EUR 19,90
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Das 2015 beim Deutschen Kunstverlag erschienene Buch mit dem Titel Harry Graf Kessler stellt eine weitere Studie in einer Reihe von Publikationen über den großen Kenner und Förderer der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts Harry Graf Kessler (1868-1937) dar. Sein Autor John Dieter Brinks hatte bereits über die Cranach-Presse geschrieben, die 1913 in Weimar durch Kessler gegründet wurde und Illustrationen von Künstlern, Bühnenbildnern und Grafikern aus Frankreich, Belgien und England mit hohem künstlerischen Anspruch druckte. Brinks Werk umfasst zudem Monografien über den Buchkünstler Henry van de Velde, den frühen Insel-Verlag und Aufsätze, die sich mit dem künstlerischen Vermächtnis aus der Zeit des Jugendstils befassen.
Der Verfasser von Kesslers Biografie gilt als Fachmann für die Buchkunstbewegung und Kulturgeschichte des fin de siècle. Ein Buch, das sich überwiegend der künstlerischen Facette des Philanthropen und L'homme de monde, wie er im gleichnamigen Buchkapitel bezeichnet wird, widmet, erscheint somit als konsequente Entscheidung vorangegangener publizistischer Arbeit. Personenbezogene Angaben und historische Inhalte leisten außerdem auf das ausführlichste sowohl bisherige Kessler-Biografien (insgesamt vier), darunter Brinks zufolge die "umfassendste" von Laird M. Easton und die "einfühlsamste" von Peter Grupp (95), als auch die von Kamzelak und Ott seit 2004 herausgegebenen Tagebuch-Editionen, die mehr als fünf Jahrzehnte umspannen.
Brinks legt hier folglich ganz bewusst den Schwerpunkt auf den Connaisseur und Kulturmanager Harry Graf Kessler. Die acht Kapitel des insgesamt 95-seitigen Buches stehen, Kesslers eigene Auffassung vom Leben berücksichtigend, für dessen einzelne "Lebensabschnitte" (19). Gleich zu Beginn zeichnet das Inhaltsverzeichnis auf poetische Weise die vielseitigen Charakterzüge und unterschiedlichen Tätigkeiten des Ästheten als Liebling der Götter, Adjuntant der Künstler, Krieger und Pazifist, Schöpfer schöner Bücher, L'homme de monde, Redakteur seines Lebens und Zeuge der Zeitenwende. Auf den nächsten Seiten verfolgen wir Kesslers Leben als Mäzen und Künstlerfreund, lernen ihn aber auch als politisch denkenden Menschen kennen. Intellektuell wie finanziell bestens ausgestattet waren seine Interessen eng verbunden mit der Kunst und führten ihn in zahlreiche Länder der Welt sowie ließen ihn in Bekanntschaft mit bedeutenden historischen Persönlichkeiten treten und in illustren Kreisen verkehren. Auch in Brinks Biografie kommen die Aspekte des einfühlsamen Dandys zur Geltung, jedoch führt Brinks uns vor allem die Ambivalenz der Zeit und den unsteten Charakter Kesslers vor Augen. So werden wir aufmerksam auf den französischen Dichter des dekadenten Stils Henri de Régnier, den Kessler zitierte, oder den französischen Bildhauer Aristide Maillol, den er als "Inbegriff des Künstlers" (9) verstand und zur Bebilderung Vergils Eclogen anregte.
Seine oppositionelle Haltung gegen die kaiserliche Kunstpolitik in Berlin einte ihn mit Künstlern der Moderne, die er wie Rodin und Munch als Talente förderte. Kessler war nicht nur Vorstand des PAN sondern auch selbst künstlerisch produktiv. Jedoch schlug er für sich eine eher konservative Richtung ein und verfasste Textvorlagen für die Vertonung von Richard Strauss' Meisterwerk der Josephslegende oder beriet den Freund Hugo von Hofmannsthal beim Rosenkavalier. Das Libretto trug zwar zu einem "Welterfolg der Oper" bei (13), jedoch auch zum freundschaftlichen Bruch. Geradezu von Kulturwahn kann angesichts der Planung eines "hypertrophen Nietzsche-Denkmals über den Hügeln von Weimar" (67), für dessen Entwurfsplan Kessler 1913 Henry van de Velde beauftragte, gesprochen werden.
Als Mitbegründer des Nietzsche-Archivs in Weimar war Kessler maßgeblich an der Popularisierung des Philosophen beteiligt. Brinks zeichnet schwungvoll das Bild eines Gefangenen der "Generation zersplitterter Menschen um 1900", die den Krieg zunächst als Aufbruch erlebt (im Falle Kesslers "aus seiner Einsamkeit" 48), um sich nach dem Krieg desillusioniert für Frieden und freie Meinungsäußerung einzusetzen. Wie eine Präfiguration der Europäischen Union erscheinen uns Die Richtlinien für einen wahren Völkerbund, die Kessler 1920 auf seiner Cranach-Presse druckte. Und auch Broschüren, die wie Die Kinderhölle in Berlin im selben Jahr in Druck gingen, zeugen von sozialem Interesse. Politische Partizipation, z.B. als Diplomat für den Auswärtigen Dienst, wird im Buch ebenso thematisiert wie die tiefen Rückschläge in seinem Leben.
Einschneidende Erfahrungen waren für Kessler der Rücktritt als Leiter des Weimarer Museums und der damit eng verbundene Rodin-Skandal oder die endgültige Einstellung der Cranach-Presse 1930 aufgrund finanzieller Engpässe; aber auch die kurz darauf folgende Erfahrung des Exils - Kessler gehört zu jenen, die bereits 1933 das Land verlassen - sowie die Armut vor seinem Tode.
In einer klaren poetischen Sprache beschreibt Brinks Kesslers großes Interesse an den Künsten und setzt sich anhand vorliegender Korrespondenz, Bild- und Textmaterial damit auseinander. Dass er dies an manchen Stellen nicht kritisch genug tut (z.B. im Fall des o.g. Nietzsche-Denkmals), schadet dem Buch kaum. So zeigen seltene Zeitdokumente, die aus den verschiedenen Archiven, z.B. der Klassik Stiftung Weimar entstammen, den Grafen in Ausstellungs- oder Ateliersituationen, die uns auch eine zeitgenössische "Vorstellung von der handwerklichen Arbeit am Druck" (52) geben. Dies kann als eine der Stärken dieses Buches gewertet werden genauso wie die französischen Formulierungen, die Brinks mit Feingefühl in den Text verwebt. Brinks ist es gelungen, einen Blick hinter die Fassade zu werfen und die individuelle Motivkonstellation aufzudecken, die sich hinter dem Menschen Harry Graf Kessler, der unter dem starken Einfluss seiner Zeit stand, verbirgt - sei es als l'homme de monde, l'homme moyen oder l'homme sans monde.
Buket Altinoba