Horst Dieter Schlosser: Die Macht der Worte. Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 308 S., ISBN 978-3-412-50557-8, EUR 34,99
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Am Anfang steht das Wort, nicht "das sogenannte Faktum" (10). Daraus leitet der Autor den "Vorrang sprachlicher Symbole für politische und soziale Entwicklungen" (14) ab. Dies soll für die "Geschichte der Leitbilder im Rahmen realpolitischer Entwicklungen" (14) in Deutschland im 19. Jahrhundert dargelegt werden. Wenn dies ein Germanist verspricht, der als Autor etliche Bücher zur politischen Sprache im 20. Jahrhundert veröffentlicht und die "Sprachkritische Aktion: Unwort des Jahres" initiiert hat, so darf man als Historiker einiges erwarten. Die Hoffnung, ungewohnte Blicke auf historische Prozesse zu erhalten, wird jedoch enttäuscht. Geboten wird eine deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert entlang einiger Entwicklungslinien und mit vielen Sprüngen ins 20. Jahrhundert und auch in die Gegenwart. Der Autor rechnet das Geschehen in den Bereichen, die er ausgewählt hat, jeweils bestimmten Leitbildern zu. Wie diese Leitbilder politisch wirken, wird jedoch nicht konkret untersucht. Dem Literatur- und Sprachwissenschaftler genügt es, Leitbilder zu benennen, denen er die von ihm erzählte Geschichte zurechnet.
Was ist ein Leitbild, welche kennt er? Diese einfachen Fragen zu beantworten, fällt nicht leicht, denn am Anfang steht keine Erläuterung des Untersuchungskonzepts, keine Definition der zentralen Begriffe, die verwendet werden, und es gibt auch keinen Katalog der Leitbilder, der es erleichtern könnte, der Argumentation zu folgen. Es fehlen Hinweise, was die sprach- und geschichtswissenschaftliche Forschung bislang zum Untersuchungskonzept vorgelegt hat und wie der eigene Ansatz und die eigenen Ergebnisse einzuordnen sind. Es geht (auch) um Begriffsgeschichte, doch den Namen Koselleck findet man im Buch nicht, auch keine der begriffsgeschichtlichen Studien zur Revolution 1848/49 oder zum Liberalismus, obwohl diese Themenfelder im Buch gewichtig sind. Vielleicht ist es angemessen, von einem Sachbuch, gedacht für ein nicht fachkundiges Publikum, zu sprechen. Doch gerade dem müsste gesagt werden, was diese Form von Sprachgeschichte gegenüber anderen Geschichtsdarstellungen besonderes bietet. Das geschieht jedoch nicht. Die Sprache geht der Tat voraus. Das ist die Kernbotschaft des Autors. Sie wird dem Laien-Leser unmittelbar plausibel sein, und in der Geschichtswissenschaft wird sie auch Zustimmung finden. Doch die bekannten Ereignisse und Entwicklungen lediglich bestimmten Sprachbildern zuzuweisen, ohne zu zeigen, wie in den politischen Arenen Sprache eingesetzt wird und wirkt, bietet keine neuen Einsichten.
Der Autor kennt zwei "Urleitbilder" des 19. Jahrhunderts: Freiheit und nationale Einheit. Sie entfalten in der politischen Praxis "einen je eigenen Leitbildcharakter" (18). Daneben gibt es - so wird man wohl den Autor verstehen dürfen - Leitbilder, mit denen bestimmte gesellschaftliche Gruppen diesen Urleitbildern entweder widersprechen oder sie sich eigenständig aneignen, indem sie eigene Begriffe schaffen, mit denen sie die Urleitbilder variieren. Für den Widerspruch steht "Restauration" als konservatives Leitbild, das sich bis 1918 im "Mythos des 'Gottesgnadentums'" (18) verfolgen lasse. Was in der Literaturwissenschaft unter Mythos verstanden wird, hätte man als Leser gerne erfahren. Für die positive Aufnahme und begriffliche Variierung der Urleitbildes stehen "Sozialismus" oder in der Frauenbewegung die Übersetzung von "Freiheit" in "Gleichheit" aller Menschen. Letzteres kennt wiederum zwei Formen: die "'mildere' Variante 'Gleichberechtigung'" und die härtere feministische als "Gleichstellung" (219). Das Urleitbild Einheit lasse sich unter Sozialisten als "Solidarität" und "Brüderlichkeit" fassen. Es gibt aber neben Leitbildern auch Schlagworte und Schlüsselwörter sowie eine Palette von Komposita mit Begriff: Ziel-, Brücken-, Kampbegriff und bloße Begriffe ohne zusätzliche Charakterisierung. Das Urleitbild "Freiheit" begegnet auch als "Fahnenwort", und alle Leitbilder können zu bloßen "Schlagwörtern" absinken oder zu "Stigmawörtern" werden. Zwischen sprachlichen Leitbildern und sprachlichen Symbolen wird nicht unterschieden, was sie von Ideologie (ein Titelwort) oder gar "Überideologie" (268) unterscheidet, ist schwer zu erschließen.
Die einzelnen Kapitel vorzustellen, wäre in einem geschichtswissenschaftlichen Fachorgan nicht angemessen. Der Autor beansprucht nicht, neue Informationen über die deutsche Nationalbewegung, die Revolution 1848/49, die Arbeiter- und die Frauenbewegung, die Reichsgründung, die Spaltung des Liberalismus, den Imperialismus und den Ersten Weltkrieg zu bieten. Dies sind die Hauptbereiche, die behandelt werden. Der rote Faden, der durch diese Geschichtserzählung führen soll, ist die Überzeugung, "dass politische Leitbilder, die ihre Basis in bewusstseinslenkenden Schlüsselwörtern haben [...] entscheidende Faktoren für das politische Handeln sein können." (284) Die "Schlüsselwörter von Leitbildern" erschaffen "zunächst nur eine sprachliche Wirklichkeit, die im weiteren Verlauf entweder erreicht oder verfehlt wird." (284). Diese Zitate stammen aus der Zusammenfassung, die am ehesten das Konzept des Autors verdeutlicht. Ideengeschichte sei immer auch Sprachgeschichte. Aber diese Geschichtsdarstellung ist an beidem vorbeigeschrieben. Ein Sachbuch muss nicht den Forschungsstand darlegen, aber es sollte vor ihm bestehen.
Dieter Langewiesche