Rezension über:

Thibaut Boulay: Arès dans la cité. Les poleis et la guerre dans l'Asie Mineure hellénistique (= Studi ellenistici; XXVIII), Roma: Accademia editoriale Pisa Roma 2014, 567 S., ISBN 978-88-6227-708-2, EUR 280,00
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Rezension von:
Sandra Scheuble-Reiter
Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Sandra Scheuble-Reiter: Rezension von: Thibaut Boulay: Arès dans la cité. Les poleis et la guerre dans l'Asie Mineure hellénistique, Roma: Accademia editoriale Pisa Roma 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 11 [15.11.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/11/28005.html


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Thibaut Boulay: Arès dans la cité

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Kulturhistorische Forschungen zum Militär haben ebenso wie solche zur hellenistischen Polis als Lebenswelt in der Geschichtswissenschaft derzeit Konjunktur. Und genau im Schnittpunkt dieser beiden Forschungsfelder ist das 567 Seiten umfassende opus magnum Thibaut Boulays, die überarbeitete Version seiner 2007 fertig gestellten Dissertation, anzusiedeln. Den Ausgangspunkt seiner Ausführungen bildet die für die Polis zentrale patrios politeia bzw. ihre autarkeia, die nur durch eine selbständige Verteidigung der Polis und die damit auf das Engste verbundene Eintracht im Bürgerverband zu erhalten war (17). Da der Krieg für ihn in der Tradition Angelos Chaniotis' eine auf alle Lebensbereiche einwirkende Realität ist [1], möchte er nachprüfen, welchen Einfluss die zahllosen Kriege in hellenistischer Zeit auf die soziale Entwicklung und die Wirtschaft der Städte sowie die bürgerliche Identität hatten, d.h. wie diese sich konkret auf den Zusammenhalt innerhalb des Bürgerverbandes ausgewirkt haben und welche Strategien die Poleis entwickelt haben, um diesen sicherzustellen (19).

Im ersten Teil zur Verteidigung der Polis (25-155) werden systematisch Informationen zu den militärischen Institutionen, den verschiedenen Altersgruppen, ihrer Ausbildung und ihrem Training im Gymnasion, den Einrichtungen zur Verteidigung der Stadt, der Armee mit ihren verschiedenen Truppenteilen und Kommandanten, den Befestigungsanlagen sowie ihrer Organisation, Finanzierung und Verwaltung zusammen getragen. Im Ergebnis hält Boulay fest, dass die Poleis in hellenistischer Zeit ihre Verteidigung selbst übernahmen, diese eine wesentliche Aufgabe der Polis war und die veränderten politischen Rahmenstellungen in dieser Zeit keinesfalls "le lien qui existait entre la citoyenneté et la défense du territoire" abgeschwächt haben. "Les cités grecques vivaient donc véritablement sur le pied de guerre", wie er resümiert (155).

Diese Ergebnisse stellen sodann die Basis für den zweiten, umfangreichsten Teil der Arbeit dar, der der besiegten Polis gewidmet ist (159-384). Hier werden die Verwüstung und Plünderung der Chora thematisiert und die von einer Polis während ihrer Belagerung getroffenen Maßnahmen sowie die hieraus nicht selten resultierenden Staseis. Des Weiteren werden die diversen Formen der Gewaltanwendung gegenüber den Unterlegenen nachgezeichnet und die praktischen Konsequenzen einer Besatzung für die Stadt und ihre Bewohner, die Neudefinition des rechtlichen Status einer eroberten Stadt sowie die inschriftlich immer wieder thematisierte Not. Nach Boulay seien die Belastungen, die sich aus Kriegen und insbesondere aus einer Niederlage für die Poleis ergaben, in vielerlei Hinsicht gravierend gewesen (s. dazu aber unten) und dadurch vermutlich auch ein Katalysator für den Aufstieg und die dauerhafte Etablierung großer Euergetai und die daraus resultierenden strukturellen wie institutionellen Veränderungen in der griechischen Polis gewesen.

Im letzten Abschnitt der Arbeit geht es schließlich um die Konsequenzen des Krieges (387-484), d.h. erstens den Wiederaufbau und die Restaurierung der Stadt und ihrer Heiligtümer sowie die Erneuerung des Bürgerverbandes durch Synoikismoi, die Rückkehr Kriegsgefangener oder massenhafte Bürgerrechtsverleihungen. Zweitens die Aussöhnung des Bürgerverbandes (z.B. durch Anmestien und finanzielle Maßnahmen) und schließlich drittens die kollektive Erinnerung an den Krieg durch die Einrichtung neuer Kulte, Feste und Monumente zur Stärkung der bürgerlichen Identität.

Die Monographie wird beschlossen durch eine kurze Gesamtzusammenfassung (485-491), eine umfangreiche Bibliographie (493-525) sowie ein ausführliches Quellen- (527-549) und Sachregister (551-567).

Aufgrund des Umfanges der Arbeit können hier nur einige Punkte angemerkt werden: Als erstes fällt auf, dass Boulays Fokus ausschließlich auf den negativen Auswirkungen des Krieges und auf den unterlegenen Poleis liegt. Dass es im Krieg aber immer auch einen Gewinner gab, der gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorging, - sei es eine andere Polis, ein hellenistischer König oder Rom - wird vollständig ausgeblendet und macht die Darstellung deshalb völlig einseitig. Eng damit verbunden ist die mangelnde Differenzierung bei eben diesen verschiedenen Kriegsgegnern. Denn nicht nur während der kriegerischen Handlungen ist hier mit Unterschieden zu rechnen, sondern gerade auch im Nachgang des Krieges, d.h. im Umgang mit den Besiegten und ihrer Polis oder bei der Besatzung. So handelt es sich beispielsweise bei den meisten aufgeführten Besatzungen um königliche, insbesondere auch ptolemäische, sodass hier auch ein Blick auf die Organisation der hellenistischen Armeen notwendig gewesen wäre. Das gilt speziell für die Einquartierung von Soldaten (276-282), für die eine reiche papyrologische Überlieferung zur ptolemäischen Praxis vorliegt. Auch hätte hier stärker unterschieden werden müssen zwischen eigenmächtigen Quartiernahmen der Soldaten und solchen, die vom König oder seinen Funktionären bzw. Offizieren genehmigt oder gar angeordnet waren. [2]

Mangelnde Systematisierung und Differenzierung machen sich aber auch an anderen Stellen bemerkbar: Wurde die Wahl des geographischen wie chronologischen Rahmens einleitend unter anderem mit der besonders guten epigraphischen Überlieferung begründet, die nicht nur Vergleiche zwischen verschiedenen Poleis erlaube, sondern auch größere Entwicklungslinien sichtbar werden lasse (19f.), so bleibt der Autor dem Leser letztendlich Beides schuldig. Weder werden - mit Ausnahme der Gesamtzusammenfassung (488) - regionale Unterschiede oder Besonderheiten im geographisch wie kulturell äußerst vielgestaltigen Kleinasien thematisiert, noch Entwicklungen innerhalb der knapp 300 Jahre umfassenden Zeitspanne nachgezeichnet. Des Weiteren hätte eine stärkere Einbeziehung auch archäologischer Quellen, beispielsweise in den Kapiteln zu den Befestigungsanlagen (132-143) oder zu Monumenten für die Kriegsgefallenen (476-484) eine willkommene Erweiterung der Perspektive ermöglicht - Themen, zu denen gerade in den letzten Jahren zahlreiche neue Publikationen vorgelegt wurden. [3] Möglicherweise zeichnet hier unter anderem die relativ lange Zeitspanne zwischen der Fertigstellung und Publikation der Arbeit verantwortlich, die sich auch an anderen Stellen negativ bemerkbar macht. [4] Und schließlich hätte man sich bisweilen etwas weniger Ehrfurcht vor den Ansichten der "maitres" gewünscht. [5]

Diese Einwände schmälern jedoch keinesfalls den Wert vorliegender Arbeit. Angesichts des Umfanges der Arbeit und dem darin erstmals systematisch zusammen getragenen und analysierten Quellenmaterial, das nicht nur zahllose epigraphische und klassische literarische Quellen umfasst, sondern auch die häufig vernachlässigten taktischen Autoren, kann Boulays Verdienst an dieser Stelle nur schwer Rechnung getragen werden. Zweifellos wird diese Arbeit für jeden, der sich in Zukunft mit Krieg und militärhistorischen Fragen im kleinasiatischen Raum und insbesondere griechischen Poleis beschäftigen wird, ein unverzichtbares Instrumentarium bilden.


Anmerkungen:

[1] Angelos Chaniotis: War in the Hellenistic World. A Social and Cultural History, Oxford 2005, XXI.

[2] Dies gilt insbesondere für die Stationierung von Soldaten in bzw. in der Nähe von Heiligtümern (283f.). Während die Einquartierung der Soldaten im Heiligtum in I.Ephesos 1449, 4 eindeutig von oben angeordnet worden sein dürfte (cf. BE 1952, 141), deuten die königlichen Anordnungen in I.Labraunda III.2 46 und die in C. Le Roy, RA 1986, 279-300 greifbaren Regelungen auf ein nicht autorisiertes Verhalten der Soldaten. Dies ist ein nicht zu vernachlässigender Unterschied, haben die Ptolemäer architektonisch eingefasste Heiligtümer (in ihrem Stammland) doch auch bewusst als sichere Stationierungsorte genutzt.

[3] Vgl. z.B. Silke Müth et al. (Hrsg.): Ancient fortifications. A compendium of theory and practice (Fokus Fortifikation Studies 1), Oxford, Philadelphia 2016, S. IX-X, oder Nathan T. Arrington: Ashes, images, and memories. The presence of the war dead in fifth-century Athens, New York 2015.

[4] Seit Fertigstellung der Dissertation wurden beispielsweise von der so genannten "stèle des braves" aus Thasos (Pouilloux, Thasos I 141) mehrere neue Fragmente publiziert, die einen größeren Einblick in das Verfahren und v.a. Informationen über die Voraussetzungen für den Bezug einer Kriegswaisenrente bieten (30): Julien Fournier/Patrice Hamon: Les orphelins de guerre de Thasos. Un nouveau fragment de la stèle des Braves (ca 260-250 av. J.-C.), BCH 131, 2007, 309-381 (SEG LVII 820), und Patrice Hamon: Études d'épigraphie thasienne, III. Un troisième fragment de la Stèle des Braves et le rôle des polemarques à Thasos, BCH 134, 2010, 301-315. Exempli gratia sei des Weiteren im Zusammenhang mit den teichopoïka (141ff.) auf die Ausführungen bei Ludwig Meier: Die Finanzierung öffentlicher Bauten in der hellenistischen Polis, Berlin 2012, 44-47 und bes. 114 verwiesen.

[5] So hätte Boulay z.B. darauf hinweisen können, dass der in einer Inschrift aus Tabai (La Carie. Histoire et géographie historique avec le recueil des inscriptions antiques, Bd. II, Paris 1954, Nr. 6) von Jeanne und Louis Robert gelesene und ergänzte Titel [strateg]os genomenos epi t[ô]n olôn singulär ist (79), und mit Verweis auf den an späterer Stelle (90) besprochenen und in mehreren Poleis belegten Titel strategos epi tôn oplôn dezidierter seinen Vorschlag eines Schreibfehlers vertreten können (80), den die Roberts explizit verworfen hatten (ebd. 105 Anm. 12).

Sandra Scheuble-Reiter