Clemente Miari: Chronicon Bellunense (1383-1412). A cura e con un saggio di Matteo Melchiorre (= Fonti per la storia della terraferma veneta; 29), Roma: Viella 2015, XCIV + 277 S., ISBN 978-88-67-28-547-1, EUR 50,00
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Im Herbst 1410 musste ein Zimmermann aus Belluno bei der Rückkehr in sein Haus feststellen, dass seine Frau sich im Wohnzimmer heimlich mit einem Kanoniker aus der Nachbarstadt Feltre unterhielt. Der Ehemann und seine zwei Söhne richteten den Geistlichen mit Fäusten und allerlei Schneidwerkzeug so übel zu, dass er halbtot zu einem Arzt getragen werden musste. Während ein Sohn sich absetzen konnte, wurden die beiden anderen Täter verhaftet, doch bald gegen eine hohe Kaution frei gelassen (188). Diese Begebenheit - sie erinnert an kleruskritische Novellen oder eher noch an die in den Registern der päpstlichen Pönitentiarie überlieferten Selbstdarstellungen reuiger "Pfaffenfeinde" - ist nur eine Kostprobe aus dem reichen Menü von faits divers, das die Chronik des Clemente Miari ihren Lesern serviert. Sehr zahlreich waren die Leser bisher freilich nicht: Denn bevor die hier zu besprechende Edition erschien, konnte der sehr persönlich gehaltene, zwischen Tagebuch und Chronik anzusiedelnde Text des Belluneser Domkanonikers nur in einer betagten italienischen Teilübersetzung des lateinischen Originals rezipiert werden. Clemente war trotz seiner geistlichen Ämter tief in der Laienwelt verwurzelt; er entstammte einer ghibellinisch orientierten lokalen Adelsfamilie, die von der Herrschaft der Mailänder Visconti über Belluno (bis 1404) profitierte, aber auch mit der dann einsetzenden Venezianer Regierung gut zurechtkam. Dass 1410 der ungarische und dann römisch-deutsche König Sigismund Belluno besetzte, kam den Miari politisch aber noch besser gelegen. Die Rückkehr Venedigs erlebte der 1413 an der Pest verstorbene Chronist nicht mehr. Dass seine Aufzeichnungen bereits 1412 enden, erklärt sich wahrscheinlich aus dem Verlust der letzten Einträge.
Matteo Melchiorre, dem die sorgfältig gearbeitete Edition zu verdanken ist, informiert in einer ausführlichen Einleitung über alle Merkmale, die das Werk als historiografischen Text, als Quelle und als Handschrift (Autograf heute in der Biblioteca del Seminario Vescovile in Padua) charakterisieren. Dass der literaturhistorische Vergleich mit anderen Chroniken der Zeit sich im Wesentlichen auf die italienische Forschung beschränkt, ist schade: Ein Blick zum Beispiel in Gustav Seibts Buch über die Chronik des Anonimo Romano hätte den Horizont öffnen können. Und wäre für die Rekonstruktion der Lebensstationen Clementes, der nach eigener Aussage eine Reihe von Pfründen im Veneto ergatterte, nicht eine Sondierung in den vatikanischen Beständen hilfreich gewesen? Daran hat der Bearbeiter sich nicht versucht. Damit sind aber auch schon fast alle Desiderata genannt. Dass die nicht-historiografischen Teile des Codex weggelassen wurden, ist nicht dem Wunsch des Bearbeiters, sondern der Finanzierung des Editionsprojekts geschuldet. Ausgefallen sind daher die auf den ersten Besitzer, Clementes Großonkel, zurückgehenden Einträge (Besitzinventar der 1350er Jahre) sowie buchhalterische Notizen des Chronisten (vgl. LII, LXXIX und Abb. 4). Es handelt sich also um ein Familienbuch, das nicht zur Publikation bestimmt war und lange im Besitz der Miari verblieb.
Die Qualität der Chronikedition ist vorbildlich, einige wenige Druckfehler fallen nicht ins Gewicht. Melchiorre hat sich mit guten Gründen dafür entschieden, die Einträge in eine korrekte zeitliche Reihenfolge zu bringen, auch wenn die Anordnung im Codex stellenweise davon abweicht. Clemente Miari arbeitete in den knapp 30 Jahren seiner Chronistentätigkeit mit unterschiedlicher Intensität. Besonders eifrig kommentierte er in seinem einfachen, aber effizienten Latein die Jahre 1396-1406 und 1409-1411. Wiederkehrende Themen sind die nie versiegenden Konflikte in Belluno (ein schwer zu entwirrender Mix aus persönlichen Animositäten und politischer Feindschaft); das öffentliche Leben (Feste und Prozessionen); die politischen Veränderungen, denen die Kommune Belluno sich mittels zahlloser Gesandtschaften in die jeweiligen Machtzentren nolens volens anpasste; häufige, aber unterschiedlich gravierende Epidemien (oft als "pestis" bezeichnet); die Pfründenkarriere des Autors, seiner Freunde und seiner Rivalen; die Familie Miari und ihre Gegner; Unfälle, Verbrechen und Strafverfolgung, persönliche Erlebnisse bis hin zu Träumen. Und immer wieder "rixe" (Händel, Schlägereien), deren Intensität in einer relativ kleinen Stadt wie Belluno erstaunlich ist - aber das mag auch daran liegen, dass eben nur wenige Städte einen so neugierigen und genau beobachtenden Zeitzeugen wie Clemente Miari hatten. Dieser Nahblick auf das städtische Alltagsleben, dargeboten von einem Insider, macht das Chronicon bellunense zu einem wertvollen Zeugnis. Seine Stärke liegt nicht so sehr im Kolorit einzelner Episoden wie des eingangs resümierten Ehebruchs; sondern eher, zum einen, in seinem Potenzial als spätmittelalterlichem Ego-Dokument und zum anderen darin, dass gerade die häufige Wiederkehr ähnlicher Vorgänge es ermöglicht, eine scheinbar ungeordnete Folge von Ereignissen nach Strukturen zu befragen: zum Beispiel nach der Logik der Konflikte oder den Bedingungen der Friedensschlüsse zwischen verfeindeten Gruppierungen.
Thomas Frank