Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie - Philosophie - Mystik. Band 4: Zionismus und Schoah, Frankfurt/M.: Campus 2015, 659 S., ISBN 978-3-593-39141-0, EUR 78,00
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Dass die Schoah als jüdische Katastrophe einerseits und die Gründung des jüdischen Staates andererseits die entscheidenden Zäsuren der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert darstellen, will der Potsdamer Theologe Karl Erich Grözinger mit dem vierten Band seines Werks über "Jüdisches Denken" bekräftigen. Der Autor verfolgt das Ziel, anhand ausgewählter Texte jüdischer Denker, Historiker, Philosophen, Theologen und Rabbiner die "Neujustierung des jüdischen Selbstverständnisses" (20) und damit das neue Jüdische Denken auszuloten.
Grözinger verrät bereits zu Beginn seine dem zionistischen Geschichtsverständnis zu Grunde liegende Perspektive: "Das Judentum ist durch Zionismus und Schoah wieder in die Geschichte zurückgekehrt, sei es als wollendes Vorausdenken oder als resümierendes Nach-Denken. Das Dasein des Judentums als Exilsdasein ist und musste mit den beiden Ereignissen als zuende gekommen betrachtet werden." (22)
Diese Haltung durchzieht den Band, der in zwei Teile aufgeteilt ist. Im ersten Teil - "Der Zionismus" - werden Arbeiten der zionistischen Denker seit der Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert: Moses Hess mit seinen "Lehren von Volk, Rasse, Nation, Gott und Kosmos" in der frühen Schrift "Rom und Jerusalem"; Leon Pinsker mit seiner Diagnose von Normalität versus Anomalie (des jüdischen Volks) und der Territoriums-Frage (eines jüdischen Staats).
Dann kommen die zwei prominenten Zionismus-Denker zu Wort: Theodor Herzl, Begründer des politischen Zionismus, und Ascher Ginzberg bekannt als Achad Haam, Begründer des sogenannten Kulturzionismus. Herzl ordnet Grözinger dem "soziologisch-staatsrechtlichen Ansatz" zu, Achad Haam dem "säkular-soziologisch-kulturellen". Tatsächlich befassten sich beide einflussreiche Denker um die Jahrhundertwende mit dem sozial-politischen Aspekt der "Judenfrage", beide verstanden die Juden nicht nur als Volk, sondern auch als eine Nation.
Des Weiteren stellt Grözinger Aharon David Gordon mit seinem säkularen-sozialistisch geprägten Zionismus vor, ebenso Jehuda Ben Salomon Alkalai mit seinem weniger weltlich gefärbten "apokalyptisch-messianisch-demokratischen" Verständnis der neuen zionistischen Bewegung. Auch der Jerusalemer Rabbiner Avraham Jitzchak Kuk gilt hier als religiöser Zionist. Kuk verband mit dem säkularen Zionismusverständnis der "Wiederbelebung der jüdischen Nation" den religiösen Aspekt von "Glauben und geistiger Freiheit". Der Zionismus wird hier religiös-messianisch verstanden, als "Anfang der Erlösung" des jüdischen Volkes, und zwar im Lande Israel (Eretz Israel).
Der Abschnitt "Zionismuskritik und Post-Zionisten" soll in diesem Nachschlagwerk die Pluralität und Vielfalt des Zionismus herausstellen, doch in Wirklichkeit werden die Kritiker des Zionismus ausnehmend stiefmütterlich behandelt. Um die Kritik in der zionistischen Bewegung zu illustrieren, zieht Grözinger zwei Stimmen aus dem frühen Zionismus heran, und zwar die von Heinrich Margulies und Martin Buber. Beide hätten sich lange vor der Staatsgründung skeptisch zu einem jüdischen Staat in Palästina geäußert, und zwar auf Grund der demographischen Verhältnisse in den 1920er und 1930er Jahren. Was die "Post-Zionisten" betrifft, so befasst sich Grözinger wenig mit den konkreten Kritikpunkten dieser seit den 1980er Jahren verstärkt aufkommenden Bewegung - einer Bewegung, die unter den Vorzeichen des bereits umgesetzten zionistischen Projekts entstand. Der Autor interessiert sich vielmehr für die Frage, ob "der Zionismus seine Ziele erreicht" habe und "somit seine Ära beendet" sei. Diese Frage verneint Grözinger entschieden und sieht vier Perspektiven, die er rechtfertigend ausführt: "Judennot", "Not des Judentums", "Religiöse Erlösungsnot" und (den ausgebliebenen) "Frieden mit der arabischen Bevölkerung Palästinas".
Tatsächlich bleibt der Blick frei von jeglicher Skepsis am bereits implementierten zionistischen Projekt beziehungsweise an der hier kaum beachteten israelischen Politik. Das abschließende Kapitel des ersten Themen-Blocks: "'Jüdischer Nationalismus' nach der Gründung des Staates Israel und nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967" stellt die zionistische Position des israelischen Denkers Eliezer Schweid zustimmend und sehr detailliert dar. Leitfrage dabei ist: "Braucht der Staat Israel eine zionistische Politik?" (455) - mit dem von Schweid selbst erhobenen Anspruch: "Das Land Israel als Heimatland des jüdischen Volkes" (457).
Dass die zionistische Antwort auf die "Judenfrage" ebenso evident wie selbstverständlich sei, wird im zweiten Teil - "Die Schoah" - bekräftigt. Hier werden zentrale jüdische Denkströmungen beziehungsweise Debatten zur Katastrophe ausgeführt: von einem konstant gebliebenen religiösen Ansatz wie "Hasidische Stimmen aus der Bedrängnis - Eine ungebrochene zerbrochene Welt", über zunehmenden Glaubensverlust wie "Glaube nach Auschwitz - 'Holocausttheologie', der Tod Gottes in Auschwitz - Richard L. Rubenstein" bis hin zu deutlich säkularen, mithin zionistischen Lehren und Antworten wie "Authentische Antworten auf die Schoah im vollen Bewusstsein der Geschichte", vermittelt mithilfe von Texten des zionistischen Philosophen Emil L. Fackenheim.
Die Gedanken des orthodoxen Rabbiners Irving Yitzchak Greenberg aus den USA werden im Kapitel "Holocaust und Staatsgründung Israels eröffnen eine neue Ära des Judentums" ausgeführt, die Überlegungen von Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas tragen den Titel: "Gottes Verborgenheit - menschliche Verantwortung". Berkovits' Texte "Faith after the Holocaust" und "Crisis and Faith" sowie der kurze Aufsatz des Philosophen Emmanuel Lévinas "Die Tora mehr zu lieben als Gott" stehen für die Auseinandersetzung zweier Gläubiger mit einer Welt ohne Gott. Auch das anschließende Kapitel "Der Mensch in der Verantwortung der Gottesentwicklung" thematisiert die Rolle des Menschen in einer Welt nach dem Holocaust, wobei der Aufsatz "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" von Hans Jonas im Mittelpunkt steht. Dem jüdischen Philosophen gehe es dabei um eine neue Definition Gottes, die das Adjektiv allmächtig aufgibt, um angesichts der Schoah nicht auch auf die "Güte" verzichten zu müssen.
Der Band schließt im Kapitel "Die Schoah, das Ende des Exil-Judentums - die Lehren aus der Geschichte" mit einer klaren zionistischen Botschaft. Auch dazu zieht Grözinger den zionistischen Gelehrten Eliezer Schweid heran, der dezidiert den Konnex zwischen der ultimativen Vernichtungserfahrung des jüdischen Volkes und der notwendigen Rettung durch den Zionismus herstellt. Doch auch politische Souveränität und militärische Stärke seien keine Garantie; eine jüdische Schoah sei "weiterhin eine Möglichkeit" (644). Die Begründung dafür: Der Antisemitismus setze sich gewissermaßen im Antizionismus fort.
Der hier besprochene Band bietet kaum etwas Neues; auch eine weiterführende Analyse der vorgestellten Texte findet keinen Platz. Das Buch liest sich in Zeiten der Krise des zionistischen Israel als Versuch, den Konnex von Schoah als Höhepunkt des Judenhasses und Zionismus als ultimative Antwort auf die daraus entstandene "Judenfrage" wieder herzustellen und zu bekräftigen. Doch Grözinger hat nicht nur keinen Sinn für die Ursachen der Krise des Zionismus, er scheint sich dieser kaum bewusst zu sein. Eine gewisse Distanz zu seinem Untersuchungsgegenstand hätte dem Werk sicherlich gutgetan.
Tamar Amar-Dahl