Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hgg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert (= Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 12), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015, 347 S., ISBN 978-3-515-11072-3, EUR 39,00
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Sammelbände haben oft einen Charakter des mühsam zusammengehaltenen Expertenwissens, das neue Forschungswege aufzeigt, aber eher selten echte und artikelübergreifende Lesefreude aufkommen lässt. Der hier zu besprechende Band - das sei gleich zu Beginn gesagt - ist anders. Denn zum einen sind die meisten der Artikel klar geschrieben und bauen chronologisch aufeinander auf; zum anderen werden mit dem Thema viele gewichtige Fragen der deutschen und internationalen Geschichte abgehandelt. Wer sich mit Liberalismus im 20. Jahrhundert beschäftigt, muss sich auch mit den Misserfolgen, den Paradoxien, den Dilemmata und vor allem den vielen Gegenkräften des Liberalismus auseinandersetzen. Es geht also um Grundsätzliches, wenn eine Reihe namhafter deutscher und internationaler Historiker nach dem historischen Ort des Liberalismus im Zeitalter der ideologischen Extreme fragt.
Aus einer angloatlantischen Perspektive lässt sich das 20. Jahrhundert vordergründig durchaus als eine Erfolgsgeschichte des Liberalismus beschreiben, so Anselm Doering-Manteuffel und Jörn Leonhard in ihrer konzisen Einleitung. Aus den beiden Weltkriegen und auch aus dem Kalten Krieg gingen die westeuropäischen und nordamerikanischen Demokratien als Sieger hervor. Diese drei großen Kriege des 20. Jahrhunderts wurden nicht nur militärisch ausgetragen, sondern auch als Kampf um die Durchsetzung politischer Ordnungssysteme. Entsprechend lässt sich daraus ein Erfolgsnarrativ des angloatlantischen Liberalismus ableiten, denn in allen Konflikten wurde die Kombination aus Marktwirtschaft und politischer Freiheitssicherung bestätigt. Von einer unkritischen Triumphgeschichte des Liberalismus sind Doering-Manteuffel und Leonhard allerdings weit entfernt, ihnen geht es vor allem um den Wandel von Form und Gehalt des Liberalismus in und nach allen drei Großkonflikten des 20. Jahrhunderts.
Zur Periodisierung dieses Wandels (und damit auch Strukturierung des Bandes) orientieren die Herausgeber sich jedoch nicht nur an den großen politischen Zäsuren 1918, 1945 und 1989, sondern auch an dem von Doering-Manteuffel eingeführten Modell der drei Zeitbögen, also Zäsuren übergreifende Zeitspannen, die jeweils von spezifischen und markanten Vorstellungen von der Ordnung in Gesellschaft und Staat gekennzeichnet sind. [1] Der Band gliedert sich in vier Teile: Nach der Einleitung geht es zunächst um die historischen Traditionslinien des Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert und die Bedeutung des Ersten Weltkriegs als Zäsur. Anschließend widmen sich vier Beiträge der Krise des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Der dritte Teil gilt der Zeit von den 1940er bis 1960er Jahren. Gefragt wird nach "Gemeinschaftsideen, Konsensideologie und Wohlfahrtsstaat". Der vierte Teil betrifft den letzten Zeitbogen seit den frühen 1970er Jahren, die Zeit "nach dem Boom", die 1989 überlagert und bis in die Gegenwart reicht und im Zusammenhang des Buches als die Zeit des Neoliberalismus untersucht wird.
Eine Essenz der untersuchten Transformationsgeschichte des Liberalismus entlang der Zeitbögen des 20. Jahrhunderts stellt das sich wandelnde Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft dar. Gewissermaßen handelt es sich dabei um Richtungsverschiebungen von Freiheit: Während nach 1918 die Behütung des Individuums hinter der Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft zurücktrat und in der zweiten Phase ab 1929 (vor allem aber nach 1945) der "soziale Liberalismus" der Stabilität von Demokratie und Marktwirtschaft den Vorrang vor den Einzelinteressen gab, hat sich in der dritten Phase ab ca. 1970 erstmals ein Bedingungszusammenhang aus Individuum und Massengesellschaft gebildet. Im Zentrum stand nun das Individuum als selbstverantwortliches und ökonomisch aktives Subjekt. Laut den Herausgebern eine fatale Entwicklung: "Denn der Vorrang des Einzelinteresses vor dem Gemeinschaftsinteresse droht das Gebot der sozialen Gerechtigkeit auszuhöhlen, ohne die ein Gemeinwesen auf Dauer nicht bestehen kann." (30)
Auch in anderen Beiträgen - etwa in Andreas Wirschings Aufsatz zum Verhältnis von Markt und Moral - ist der Neoliberalismus der negative Fluchtpunkt einer liberalen Verfallsgeschichte seit den 1970er Jahren, in der die Egoismus und Einzelinteressen verstärkenden Elemente des Liberalismus letztlich die Oberhand gewonnen haben. Parallel dazu steht der paradoxe Befund, dass liberale Prinzipien zwar weiter auf dem Vormarsch sind, aber gleichzeitig der organisierte Liberalismus an Funktion und Bedeutung verloren hat. Damit wird schon deutlich, dass Liberalismus im vorliegenden Band sowohl in einem essentialistischen Sinne als auch in einem nominalistischen Sinne verstanden wird. Liberalismus ist demnach sowohl ein allgemeines, zeitübergreifendes Ideenbündel als auch ein historisches Phänomen, das strikt aus dem zeitgenössischen Kontext zu verstehen ist (liberal ist, was in der jeweiligen Epoche als liberal bezeichnet wurde). Die Kombination der beiden Zugänge ist methodisch nicht ganz widerspruchsfrei, wie Lutz Raphael in seinem prägnanten Schlusskommentar anmerkt, aber letztlich lässt sich nur so untersuchen, wie liberale Denkfiguren auch jenseits des organisierten Liberalismus weiterentwickelt wurden. Diese breite Herangehensweise regt auch die Fantasie zu weiterer Forschung an. So ist etwa in dem Band viel vom Ungleichheit produzierenden Neoliberalismus die Rede, aber das sozialkulturelle Kapital und emanzipatorische Potential des Liberalismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird nicht untersucht. Ging nicht in den letzten Jahrzehnten der Zuwachs an sozio-ökonomischer Ungleichheit mit enormen Freiheitsgewinnen für große Bevölkerungsteile in den westlichen Gesellschaften einher? Überspitzt und beispielhaft gefragt: Ist die Homo-Ehe nicht ein genuin liberales Projekt?
Der Bogen, den der Band schlägt, ist aber auch schon so weit genug: von David Hume und Adam Smith bis zu Ronald Reagan und Margaret Thatcher, vom amerikanischen Liberalismus in der Zeit Franklin D. Roosevelts bis zur Zivilgesellschaft in Berlusconis Italien. Der Leser erfährt viel Neues oder gut Zusammengefasstes. Alles in allem handelt es sich um ein sehr lesenswertes, gut gemachtes Buch, das viele neue - vor allem auch vergleichende und transnationale - Perspektiven eröffnet und dem man viele Leser wünschen möchte.
Anmerkung:
[1] Anselm Doering-Manteuffel: Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), 321-348.
Bernhard Dietz