Eberhard Crailsheim: The Spanish Connection. French and Flemish Merchant Networks in Seville 1570-1650 (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 19), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 450 S., ISBN 978-3-412-22536-0, EUR 55,00
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Sevilla entwickelte sich im 16. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Zentren des Welthandels. Der enorme Reichtum der Stadt zog Kaufleute aus ganz Europa an, die sich in großer Zahl in der andalusischen Handelsmetropole niederließen. Die grenzüberschreitenden Netzwerke dieser Kaufleute stehen im Mittelpunkt von Eberhard Crailsheims lesenswerter Studie, die - im Buch nicht ausdrücklich erwähnt - offenbar auf seine 2008 an der Karl-Franzens-Universität Graz eingereichte Dissertationsschrift zurückgeht.
Die starke Präsenz von Fremden und ihr wachsender Anteil am entstehenden globalen Handel beschäftigt die historische Forschung seit Jahrzehnten. [1] Und auch zu den beiden von Crailsheim in vergleichender Perspektive untersuchten Kaufmannsgruppen, den Südniederländern und den Franzosen, gibt es einschlägige Vorarbeiten. [2] Crailsheims Untersuchung weist jedoch in zweifacher Hinsicht über diese älteren Forschungsbeiträge hinaus: Der Verfasser hat erstens eine Vielzahl neuer Quellen ausgewertet und bedient sich zweitens konsequent des methodischen Instrumentariums soziologischer und ökonomischer Netzwerkanalysen.
Nach einer knappen Einleitung, in der Crailsheim seine Fragestellung und Methodik umreißt, gibt das erste Hauptkapitel einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung Sevillas im Untersuchungszeitraum und die Aktivitäten der dort ansässigen französischen und südniederländischen Kaufleute. Das zweite Hauptkapitel analysiert deren private Beziehungen ("private connections"). Grundlage sind die zahlreichen Gesuche um Naturalisierungen, die im Indienarchiv in Sevilla überliefert sind - ein Bestand, auf dessen Quellenwert schon vor Jahrzehnten Antonio Domínguez Ortiz aufmerksam gemacht hat. [3] Dieses bislang kaum systematisch ausgewertete Material enthält wertvolle Informationen zur Biographie und zu den Verwandtschaftsverhältnissen der Bittsteller. Überdies mussten diese Leumundszeugen benennen, die in der Regel nicht aus ihrem unmittelbaren familiären Umfeld stammten. Die Bezeichnung semiprivate Netzwerke ("semi-private connections") (155 u.ö.) erscheint dem Rezensenten in diesem Zusammenhang allerdings nicht glücklich. Statt sich des in der Frühen Neuzeit ohnehin anders konnotierten Begriffen "privat" bzw. "semi-privat" zu bedienen, wäre es vielleicht angemessener, von Familiennetzwerken und sozialen Netzwerken zu sprechen.
Anhand der im Indienarchiv befindlichen Akten ist es Crailsheim gelungen, rund 400 Personen zu identifizieren, zu deren Geschäftsaktivitäten und -kontakten er in mühevoller Kleinarbeit weitere Informationen zusammengetragen hat. Diese stammen vornehmlich aus dem im Provinzialarchiv von Sevilla befindlichen Notariatsakten. Wer je mit dieser Art von Überlieferung gearbeitet hat, weiß wieviel Hingabe und Ausdauer dies erfordert! Um dem überbordenden Material Herr zu werden, hat Crailsheim jeweils die Protokolle ausgewählter Sekretariate für vier unterschiedliche Jahre (1580, 1600, 1620 und 1640) ausgewertet. Die Ergebnisse bilden die Grundlage für das dritte Hauptkapitel, in dem der Verfasser die Handelsnetzwerke ("commercial networks") der südniederländischen und französischen Kaufleute rekonstruiert. Die Lektüre dieses Kapitels verlangt auch dem Leser einiges ab, was aufgrund des spröden Material freilich kaum zu vermeiden ist. Orientierung bieten jeweils knappe Zwischenresümees am Ende jedes Unterkapitels.
Abschließend fasst Crailsheim seine wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammen: Mit ihren grenzüberschreitenden Netzwerken trugen die untersuchten Kaufleute wesentlich zur Integration des entstehenden atlantischen Wirtschaftssystems bei. Die Südniederländer, welche im Untersuchungszeitraum mit einem Anteil von mehr als einem Drittel die zahlenmäßig größte Gruppe bildeten, wurden in der überwiegenden Zahl der Fälle in Sevilla sesshaft und integrierten sich besonders in der zweiten Generation in die spanische Mehrheitsgesellschaft. Dies schloss das Streben nach sozialer Anerkennung durch Erwerb von Titeln und Ämtern mit ein. Bei der zahlenmäßig kleineren Gruppe der Franzosen, die sich in den meisten Fällen nur temporär in Andalusien aufhielten, ließen sich derartige Bemühungen nur sehr vereinzelt beobachten. Während die Netzwerke der Südniederländer primär landsmannschaftlich geprägt waren, pflegten die Franzosen mehr Kontakte zu Angehörigen anderer "Nationen". Dennoch spielte geographische Herkunft neben Familienzugehörigkeit bei beiden untersuchten Gruppen eine zentrale Rolle für deren Netzwerkbildung.
Auf den ersten Blick scheinen Crailsheims Ergebnisse seine Ausgangshypothese zu bestätigen. Im Sinne der Netzwerktheorie sei das frühneuzeitliche Andalusien als "low-trust environment" einzustufen (30). Umso wichtiger seien deshalb informelle Netzwerke gewesen, die auf gemeinsamen mentalen Mustern ("shared mental models") beruhten, etwa der Zugehörigkeit zu einem Familienverband oder einer Herkunftsgemeinschaft ("ethnic affiliation") (29). Das erscheint zunächst plausibel. Kritisch einwenden ließe sich aber, dass man aufgrund der allgemein schwachen Ausprägung von Staatlichkeit im 16. Jahrhundert im Prinzip überall von "low-trust environments" ausgehen müsste, was den Erkenntniswert des Konzepts fragwürdig erscheinen lässt. Andererseits lassen sich im Untersuchungszeitraum - gerade auch an den andalusischen Handelsumschlagsplätzen - durchaus Tendenzen beobachten, die Zugehörigkeit zu solchen "informellen" Gruppen zu institutionalisieren und rechtlich abzusichern. Die Privilegierung fremder "Nationen" sind ebenso ein Beispiel für diesen Prozess wie - gleichsam unter umgekehrten Vorzeichen - deren Ausschluss vom Handel in Kriegszeiten oder die Ausstellung von Naturalisierungsbriefen für den Amerikahandel. Welch zentralen Stellenwert die Zugehörigkeit zur "flämisch-deutschen Nation" von Sevilla besaß, die seit Beginn des 17. Jahrhunderts über ein eigenes Konsulat in Sevilla verfügte, erhellt auch aus den im zweiten und dritten Kapitel angestellten Analysen (vgl. etwa 224).
Leider versäumt es Crailsheim, seine Ergebnisse abschließend noch einmal in Beziehung zu den anderen in Sevilla ansässigen Gruppen von Kaufleuten zu setzen. Diesen Transfer muss der Leser selbst leisten. Dessen ungeachtet werden nicht nur Wirtschaftshistoriker die Untersuchung mit großem Gewinn lesen. Der Autor leistet im besten Sinne Grundlagenforschung und erweitert unseren Kenntnisstand über die Netzwerkbeziehungen und die geschäftlichen Aktivitäten fremder Kaufleute in Sevilla enorm. Künftige Forschungen werden darauf aufbauen.
Gerade vor diesem Hintergrund ist es allerdings bedauerlich, dass das Namenregister Lücken aufweist. Die aus dem Heiligen Römischen Reich stammenden Kaufleute Daniel de León, Francisco Paninque und Andrés Labermeyer etwa werden verschiedentlich im Text erwähnt (191, 223, 325, 341), im Register aber sucht man ihre Namen vergeblich. Hingewiesen sei schließlich noch auf einen - für den Gegenstand der Untersuchung freilich nebensächlichen - Fehler, der in der Forschungsliteratur häufiger begegnet. Die Hansekaufleute besaßen nicht zwischen 1607 und 1647 das Recht, Edelmetalle aus Spanien auszuführen, wie Crailsheim im Anschluss an Albert Girard irrigerweise annimmt (66). Vielmehr wurde ihnen dieses und andere Privilegien 1607 erstmals in Aussicht gestellt und 1647 erneut vertraglich bestätigt.
Anmerkungen:
[1] Wegweisend Antonio Domínguez Ortiz: Los extranjeros en la vida española, in: Estudios de historia social de España 4/2, Madrid 1960, 293-426; zuletzt Manuel F. Fernández Chaves / Mercedes Gamero Rojas: Nations? What nations? Business in the shaping of international trade networks in XVIIIth century Seville, in: Manuel Herrero Sánchez / Klemens Kaps (eds.): Merchants and Trade Networks in the Atlantic and the Mediterranean, 1550-1800, London / New York 2017, 145-168.
[2] Zu verweisen ist besonders auf die Pionierstudien von Albert Girard: Le commerce français à Séville et Cadix au temps des Habsbourg, Paris 1932; Eddy Stols: De Spaanse Brabanders of de Handelsbetrekkingen der Zuidelijke Nederlanden met de Iberische Wereld 1598-1648, Brüssel 1971.
[3] Domínguez Ortiz, Los extranjeros, 324; ders.: La concesión de naturalezas para comerciar con Indias, in: Revista de Indias 76 (1959), 227-239.
Thomas Weller