Manfred Görtemaker / Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München: C.H.Beck 2016, 588 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-69768-5, EUR 29,95
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Als das Bundesministerium der Justiz (BMJ) kurz nach seiner Gründung die idyllisch gelegene Rosenburg auf dem Bonner Venusberg als neuen Dienstsitz bezog, entwickelte sich dort aus Sicht der Mitarbeiter eine besondere Atmosphäre, die geprägt war von Gemeinschaftsgefühl, Leistungsbereitschaft und Pflichtbewusstsein. Zudem gehörte zum "Geist der Rosenburg" aber auch eine Vergessenheit im Hinblick auf die Vergangenheit, die erst wenige Jahre zurücklag. Obwohl viele Ministerialbeamte des BMJ eine erhebliche NS-Belastung aufwiesen, wurde darüber unter den Mitarbeitern nicht gesprochen. Doch trotz dieser vordergründig beschwiegenen Vergangenheit können der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker und der Erlanger Jurist Christoph Safferling in ihrem Band über das BMJ zeigen, dass das nationalsozialistische Erbe auf vielfältige Weise die Arbeit des Ministeriums im untersuchten Zeitraum von 1949 bis 1973 beeinflusste.
Im Mittelpunkt des Bandes steht zunächst die Herkunft des Personals, die die Autoren und ihr Team anhand der überlieferten Personalakten präzise ermittelt haben. Dabei zeigt sich, dass über den Zeitraum zwischen 1949 und 1963 stets über 50 Prozent der leitenden Mitarbeiter vor 1945 der NSDAP angehört hatten. Außerdem hatte eine große Zahl als Richter oder Beamte zur kooperierenden Funktionselite im 'Dritten Reich' gehört. Damit zählt das BMJ im Vergleich mit anderen Bundesministerien und Bundesbehörden zu den stärker belasteten Institutionen der Nachkriegszeit. Anhand zahlreicher biographischer Skizzen führt der Band immer wieder vor Augen, wie das Ministerium bei der Einstellung von Mitarbeitern bereit war, "braune Flecken" in den Biographien auszublenden, und selbst als später konkrete Vorwürfe aufkamen, dass einzelne Mitarbeiter an NS-Verbrechen beteiligt gewesen waren, diesen Hinweisen nicht weiter nachging oder die Kollegen - teilweise sogar gegen besseres Wissen - verteidigte. Selbst der erste Bundesjustizminister Thomas Dehler und sein Staatssekretär Walter Strauß, beide NS-Opfer, setzten bei der Personalauswahl vor allen Dingen auf fachliche Kompetenz und Verwaltungserfahrung, so dass gänzlich unbelastete Personen oder Remigranten von ihnen nicht gezielt angeworben wurden.
Die starke NS-Belastung des Personals wirkte sich zum einen aus, indem das Ministerium die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen und die Bestrafung von NS-Tätern im In- und Ausland behinderte. So profilierte sich das BMJ in den Jahren 1960 und 1965 als Gegner einer Verlängerung der Verjährungsfristen für NS-Straftaten. Besonders unrühmlich verhielt es sich beim Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz von 1968. Dieses enthielt eine Klausel, die dazu führte, dass die Beihilfe zu nationalsozialistischen Mordtaten mit dem Inkrafttreten verjährte, was bei der Erarbeitung des Gesetzes nicht ohne Weiteres erkennbar gewesen war. Wie schon andere vor ihnen verdächtigen die Autoren hier den zuständigen Unterabteilungsleiter Eduard Dreher, der persönlich von dieser Verjährung profitierte, ohne dass sie allerdings in dieser Frage einen endgültigen Nachweis erbringen können.
Die NS-Belastung des Personals wirkte sich zum anderen aus Sicht der Verfasser darin aus, dass im BMJ Gesetzentwürfe erarbeitet oder angewandt wurden, die auf nationalsozialistischem Gedankengut beruhten. Diese Argumentation überzeugt dort, wo sich nationalsozialistische Überhänge eindeutig nachweisen lassen, etwa im Jugendstrafrecht, wo am Konzept der potentiell exzessiven Erziehungsstrafe und an der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer festgehalten wurde. Genauso weist das Mitwirken des BMJ an geheimen Schubladenentwürfen für den Verteidigungsfall darauf hin, dass hier Vorstellungen von einem gleichsam zeitlosen Staatsnotstandsrecht fortbestanden, das gegen die bestehende Verfassungsordnung verstoßen und diese im Notfall außer Kraft setzen konnte. Weniger überzeugt die Argumentation dort, wo die Autoren eine rein symbolische Abwendung von der Gesetzgebung aus der Zeit des Nationalsozialismus fordern. So erscheint es fraglich, ob die bloße Anwendung einer Gnadenordnung aus dem Jahr 1935 tatsächlich "einen erschreckenden Mangel an Unrechtsbewusstsein" (190) zeigt. Und ist es wirklich so "erstaunlich" (366), dass im BMJ bei den Debatten über eine Strafrechtsreform Ende der 1950er Jahre auch über eine Verfassungsänderung zur Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert wurde? Ein Vergleich mit der damaligen Praxis in anderen Ländern hätte die Verwunderung der Autoren rasch relativiert.
Bereits hier wird deutlich, dass die Studie von einer teilweise einseitigen Fokussierung auf die nationalsozialistische Vergangenheit geprägt ist. Dies mag dem Interesse des BMJ entsprechen, das das groß angelegte Forschungsprojekt in Auftrag gab und finanzierte, aber aus wissenschaftlicher Sicht greift dies immer wieder zu kurz. Eine Vorgeschichte des Ministeriums, die weiter als das Jahr 1933 zurückreicht, wird von den Autoren weitgehend ausgeklammert. Folglich unterschätzen sie auch die Bedeutung längerfristiger Traditionen, die nicht spezifisch nationalsozialistisch waren, die aber häufig vom Nationalsozialismus aufgegriffen und verstärkt wurden und die dann noch für längere Zeit das Denken in der Bundesrepublik prägten. In diesem Sinne - und nicht bloß als Ausdruck des "Geist[es] der dreißiger Jahre" (309) - wäre beispielsweise die Festschreibung eines Alleinentscheidungsrechts des Mannes in der Ehe zu deuten, das im Entwurf eines Gleichberechtigungsgesetzes des BMJ von 1952 zum Ausdruck kam und eindeutig gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes verstieß. Darüber hinaus beruhte beispielsweise der Standpunkt des Ministeriums im Statusstreit mit dem Bundesverfassungsgericht von 1952/53 und in der "Spiegel-Affäre" von 1962, die im Buch nur knapp erwähnt werden, auf einem traditionellen Etatismus, der ein wichtiges Bindeglied im politischen Denken vor und nach 1945 darstellte. Insofern erscheint es durchaus angemessen, in einer Studie über NS-Kontinuitäten hierauf näher einzugehen.
Hiermit in engem Zusammenhang steht die Tendenz der Autoren, ihre Befunde aus einer moralisierenden Grundhaltung heraus zu bewerten und sie als "skandalös" (239, 432) oder gar als "unheimlich" (273) zu bezeichnen. Dies ist selbstverständlich legitim, nur der historische Erkenntniswert hält sich dabei in Grenzen. So mögen die Autoren einen Referenten, der als Staatsanwalt im Zweiten Weltkrieg mit der Partisanenbekämpfung zu tun hatte, für eine Tätigkeit im BMJ für ungeeignet halten, aber - wie die Verfasser an anderer Stelle selbst schreiben - das aus historischer Sicht Bemerkenswerte ist doch, dass er trotz seiner Vergangenheit als Ministerialbeamter einer rechtsstaatlichen Demokratie offenbar tadellos funktionierte. Waren solche Personen mit NS-Belastung vielleicht sogar besonders motiviert, das "Experiment Bundesrepublik", mit dessen baldigem Scheitern anfangs vielfach gerechnet wurde, zum Erfolg zu führen, da sie dankbar waren, noch einmal eine zweite Chance, die vermutlich ihre letzte war, bekommen zu haben? Natürlich bietet der Band immer wieder überzeugende Erklärungen an, die herausgearbeiteten Kontinuitäten werden zugleich aber als nur "schwer zu verstehen" (217) und die sich daraus ergebenden Fragen als "schwer zu beantworten" (452) dargestellt. Diese Unsicherheit der Verfasser verwundert, da sie an ein weites Feld von Forschungsarbeiten mit ähnlicher Fragestellung anknüpfen können.
Zusammenfassend ist also zu konstatieren, dass der Band über "Die Akte Rosenburg" wichtige neue Erkenntnisse über NS-Kontinuitäten im BMJ enthält, eine vollständige Historisierung des Themas aber vermutlich nicht angestrebt und auch nicht erreicht wurde.
Frieder Günther