Franck Mercier / Martine Ostorero: L'énigme de la Vauderie de Lyon. Enquête sur l'essor de la chasse aux sorcières entre France et Empire (1430-1480) (= Micrologus Library; 72), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2015, VIII + 464 S., ISBN 978-88-8450-659-7, EUR 75,00
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Seit über zwanzig Jahren erforscht die Schweizer Mittelalterhistorikerin Martine Ostorero von der Universität Lausanne systematisch und mit wechselnden Partnerinnen und Partnern die Anfänge der europäischen Hexenverfolgungen. Nach ihrer Thèse zur Professorin ernannt [1], nimmt sie sich in ihrer neuen Publikation "das Rätsel der Vauderie von Lyon" vor, dessen Lösung der Doyen der älteren Forschung, der Kölner Stadtarchivar Joseph Hansen, bereits vor über hundert Jahren angemahnt hat. Partner bei dieser Untersuchung ist der französische Historiker Franck Mercier, Maître de conférences an der Université de Rennes 2, der durch seine Dissertation über die Vauderie d'Arras hervorgetreten ist, eine Hexenverfolgung im damaligen Herzogtum Burgund, die in den Jahren 1459/1460 so gründlich schieflief, dass alle Opfer posthum rehabilitiert wurden. [2] Die Vauderie de Lyonois geht diesem Ereignis im heutigen Norden Frankreichs zeitlich voraus und verspricht Auskunft darüber, warum man in der Frankophonie überhaupt dazu kam, die spätmittelalterliche Ketzerbewegung der evangelischen Waldenser mit der damals neuen (vermeintlichen) Sekte der Hexen gleichzusetzen.
Grundlage der Neuinterpretation ist nach wie vor der lateinische Text La Vauderie de Lyonois en brief, den Joseph Hansen schon im Jahr 1901 edierte. [3] Die Voraussetzungen zu diesem Unternehmen haben sich aber stark verbessert, seitdem die vier grundlegenden Berichte vom Beginn der großen Hexenjagd ediert und vor dem Hintergrund neu gefundener Quellen interpretiert und datiert worden sind. [4] Außerdem haben sich mittlerweile zwei weitere Abschriften des dieser Ausgabe zugrunde liegenden Quellentextes La Vauderie de Lyonois en brief in der Bibliothèque Nationale in Paris sowie in der Stadtbibliothek Trier gefunden. Dies erklärt auch die im Titel des Buches erwähnten geographischen Einheiten France et Empire: Nicht nur der Fundort Trier gehörte im 15. Jahrhundert zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, sondern auch alle Teile des zusammengesetzten Herzogtums Burgund, die nicht von Frankreich lehensabhängig waren, wie etwa das Herzogtum Brabant, die Grafschaften Hennegau und Luxemburg sowie die Freigrafschaft Burgund (Franche Comté), deren Hauptort Besançon überdies Freie Reichsstadt war. Zum "deutschen" Reich gehörten in dieser komplizierten Grenzregion im 15. Jahrhundert auch die Hochstifte Cambrai und Lüttich, Metz, Toul und Verdun, die Herzogtümer Lothringen und Savoyen sowie die Schweiz. Dagegen standen die burgundischen Grafschaften Artois und Flandern, die Picardie, sowie das Herzogtum Burgund (Bourgogne) unter französischer Oberherrschaft. Die Champagne, das Lyonnais, die Dauphiné sowie die Grafschaft Provence gehörten direkt zum Königreich Frankreich. Auch der Schauplatz der Vauderie de Lyonois lag in Frankreich, aber direkt an der Grenze zu Savoyen, und damit unmittelbar an der Grenze des Heiligen Römischen Reiches.
In ihrer mustergültigen Analyse gehen Ostorero und Mercier systematisch vor: Im ersten Kapitel (11-56) werden drei Versionen der Quelle vorgestellt, im zweiten Kapitel jeweils kritisch ediert und ins Französische übersetzt, wobei sich Edition und Übersetzung gegenüberstehen und direkt verglichen werden können (57-94). Im dritten Kapitel (95-138) wird die verwendete Terminologie in Bezug auf das Konstrukt des Hexensabbats untersucht. Kapitel vier (139-198) verspricht, das Rätsel der Vauderie von Lyon zu lösen, Kapitel fünf (199-274) geht ausführlich der Frage nach, ob die Stadt Lyon - nach der im 14. Jahrhundert immerhin die Sekte der Waldenser als die Armen von Lyon bezeichnet worden war - im 15. Jahrhundert eine Bastion der Königstreuen oder eine Heimstätte des Hexenwesens gewesen ist. Kapitel sechs (275-364) behandelt das geographische Umfeld von Lyon bzw. die frühen Hexenverfolgungen in Savoyen, der Dauphiné, der Franche Comté und der Bourgogne. Kapitel 7 (365-388) geht schließlich der Frage nach, inwiefern die Verbreitung des Traktats La Vauderie de Lyonois en brief zur Diffusion der neuen Hexenvorstellung beigetragen hat und wie die Textvarianten insbesondere der Trierer Quelle interpretiert werden können. Auf eine Conclusion (389-393) folgt noch ein Anhang mit sechs (teils schon von Hansen) edierten Quellen, die zum Verständnis der Hauptquelle entscheidend beitragen (395-434). Eine Auswahlbibliographie (435-447), ein Personen- und Ortsregister (449-462) und ein Index des manuscrits (463) runden diesen Band ab.
Während Hansen die Vauderie de Lyonois en brief wegen ihrer scheinbaren Nähe zu den Vorfällen in Arras auf "ca. 1460" datiert hat, gelingt Ostorero und Mercier aufgrund zahlreicher Indizien eine Vordatierung auf ca. 1440, also in zeitlicher Nähe zu den frühesten Berichten von großen Hexenverfolgungen in Europa. Darauf folgt eine atemberaubende Kombination der verfügbaren Dokumente mit einer Rekonstruktion des lokalen Kontexts. Mit Hilfe einer Prosopographie der Königsbeamten, der Träger der erzbischöflichen Verwaltung und der Klostertheologen ergibt sich ein immer schärferes Bild. In den Mittelpunkt stellen die beiden Autoren die Untersuchung des Dominikanerkonvents von Lyon und seiner beiden Prioren Thomas Girbelli und Jean Tacot, die beide auch als Inquisitoren tätig waren. Ihre Inquisition konkurrierte mit der Macht des Erzbischofs von Lyon sowie umliegender Bischöfe. 1437 scheint Girbelli wegen einer übereifrigen Verfolgung in derartige Konflikte mit dem Bischof von Autun geraten zu sein, dass sich Papst Eugen IV. zum Eingreifen genötigt sah. Gegenstand des Streits war das neu konstruierte Delikt der Vauderie, das eine große Hexenverschwörung an die Stelle des alten Waldensertums setzte: Menschen, die zu großen Versammlungen flogen, um dort den Teufel zu verehren und anschließend Schaden über die Menschen zu bringen (185-191).
Ostorero und Mercier kommen zu dem Schluss, dass der untersuchte Text La Vauderie de Lyonois en brief zeitlich und inhaltlich zu den ältesten Texten über den Hexensabbat gehört. Inhaltlich besteht die größte Nähe zu dem Inquisitorenbericht Errores Gazariorum, der um 1437 von dem franziskanischen Inquisitor Ponce Feugeyron im Aostatal verfasst worden sein soll. Die Vauderie de Lyonois en brief könnte damit als "der dominikanische Kontrapunkt zu den Errores Gazariorum betrachtet werden" (390), verfasst mutmaßlich von einem der genannten Prioren des Dominikanerklosters von Lyon, oder von beiden zusammen. Während Feugeyron die neuen Hexen mit der alten Ketzerei der Katharer (gazzari) verbinden wollte, bezogen sich die Dominikaner auf die von Lyon ausgegangene Ketzerei der Waldenser. Der Versuch der dominikanischen Inquisitoren, in den späten 1430er Jahren im Lyonnais eine große Hexenverfolgung vom Zaun zu brechen, ähnlich denen in Savoyen oder in der Dauphiné, scheiterte allerdings am Widerstand des Erzbischofs. Ebenso scheiterte eine Ausdehnung der Verfolgung auf andere Teile des Königreichs Frankreich. Die beiden Lyoner Inquisitoren haben versucht, den französischen König Karl VII. - der im Frühjahr 1439 durch Lyon kam - auf dem Weg der Petition für ihr Anliegen zu interessieren. Ostorero und Mercier vermuten, dass sie für diesen Anlass die bizarren Merkmale der Vauderie zusammengestellt haben, und zwar aus den Prozessakten eines Prozesses, wie es in dem Text selbst heißt.
Der einzige Prozess, der dafür nach Quellenlage in Frage kommt, ist ein bisher unbeachtetes Verfahren gegen eine Gruppe von vier Personen, zwei Frauen und zwei Männer. Sie wurden am 23. März 1439 als Ketzer (heretici) verurteilt. Die Männer waren während der Verhöre verstorben, für die Frauen namens Marguerite Borasse und Agnès Gobeta wurde die Verbrennung bei lebendigem Leibe angeordnet und von der weltlichen Macht vollzogen. Allerdings wurden in der Verlesung des Urteils durch die weltlichen Richter die bizarren Details des Hexenverbrechens nicht aufgeführt. Wie einige spätere Dämonologien - etwa der berühmte Malleus Maleficarum [5] - wäre also auch die Vauderie de Lyonois en brief ein Dokument des Scheiterns. Die Inquisitoren dokumentierten ihre dämonologischen Befunde, weil sich die Juristen diesem Unsinn verweigerten. Allerdings wurde mit dem Traktat eine Saat gesät, die man später wiederbeleben konnte, etwa anlässlich der Verfolgung in Arras. Weil diese aber ebenfalls scheiterte, so könnte man schließen, wurde die Gleichsetzung von Vauderie und Hexerei noch im 15. Jahrhundert aufgegeben.
Ostorero und Mercier gelingt mit diesem Buch ein Meisterstück der Quellenanalyse, das seinen Weg in mediävistische Seminare finden wird. Ein seit langem berühmter Quellentext, der erratisch an der falschen Stelle eingeordnet worden war, wird hier erfolgreich kontextualisiert und zum Sprechen gebracht. Für Kenner der Materie liest es sich spannender als ein Kriminalroman.
Anmerkungen:
[1] Martine Ostorero: Le diable au sabbat. Littérature démonologique et sorcellerie (1440-1460), Florenz 2011.
[2] Franck Mercier: La Vauderie d'Arras. Une chasse aux sorcières à l'automne du Moyen Age, Rennes 2015.
[3] Joseph Hansen: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter, Bonn 1901, 188-195.
[4] L'imaginaire du Sabbat. Édition critique des textes plus anciens (1430 c.- 1440 c.), par Martine Ostorero, Agostino Paravicini Bagliani, Kathrin Utz Tremp, en collaboration avec Cathérine Chène, Lausanne 1999.
[5] Wolfgang Behringer/ Günter Jerouschek: "Das unheilvollste Buch der Weltliteratur"? Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Malleus Maleficarum und den Anfängen der Hexenverfolgung, in: Günter Jerouschek / Wolfgang Behringer (Hgg.): Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus maleficarum. Neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfgang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher, München 2000, 9-98.
Wolfgang Behringer