Julia Schopferer: Sozialgeschichte der halleschen Professoren 1694-1806. Lebenswege, Netzwerke und Raum als Strukturbedingungen von universitärer Wissenschaft und frühmoderner Gelehrtenexistenz (= Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands; Bd. 3), Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2016, 502 S., ISBN 978-3-95462-568-0, EUR 49,00
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Auf den ersten Blick verfolgt die anzuzeigende Dissertationsschrift zur Geschichte der Universität Halle im Aufklärungsjahrhundert einen herkömmlich sozialgeschichtlichen Ansatz und beschreitet damit einen eher traditionellen Pfad. Diesen ersten Eindruck vermittelt nicht nur der Titel der Studie, sondern auch, dass Julia Schopferer die soziale und räumliche Herkunft sowie die Karrierewege und -netze von 187 Akademikern erforscht und mit mehreren Tabellen belegt. Sie leistet mit diesem sozialgeschichtlichen Ansatz einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Bedingungen der Wissensproduktion und -vermittlung an frühneuzeitlichen deutschen Universitäten.
Für die Berufsgruppe der Professoren Halles lassen sich kaum einheitliche Merkmale finden; sie stammen aus unterschiedlichen sozialen Milieus (vornehmlich aus gebildeten Familien, aber auch aus Handwerker- und in Einzelfällen Bauernfamilien), hatten vor Dienstantritt unterschiedliche Bildungswege absolviert und waren unterschiedlicher protestantischer Konfession (überwiegend lutherisch, mit einigen Reformierten). Auch die universitären Karrieren weisen keine einheitlichen Muster auf und lassen keine normativen oder faktischen Zulassungskriterien sichtbar werden, denn obgleich die meisten Professoren vor ihrer Berufung bereits an der Universität der Saalestadt oder an einer anderen Hochschule tätig gewesen waren, gab es durchaus die Möglichkeit, als 'Quereinsteiger' in Halle Fuß zu fassen. Im Hinblick auf die Zulassungs- und Karrieremuster erweist sich dieses Fallbeispiel demnach als wenig korporativ-exklusiv.
Die Arbeitsbedingungen an den Universitäten interessieren die Forschung im Hinblick auf die Zäsurenfrage, d.h. die Diskussion um die Wurzeln der 'modernen' Forscheruniversität, in der die Hochschule der Frühneuzeit häufig als Kontrastfolie eingesetzt wird. Schopferer nimmt hierzu deutlich Stellung und modifiziert die noch immer in der Literatur anzutreffende Ansicht, dass die deutsche Hochschule des 18. Jahrhunderts ständisch-geschlossen und somit starr und rückständig gewesen sei. Ihre Arbeit macht am Beispiel der 1694 gegründeten 'Reformuniversität' Halle einmal mehr deutlich, dass auch das von Peter Moraw geprägte Label der "Familienuniversität" nicht passt, weil es neben den sogenannten Erbprofessuren sehr unterschiedliche Netzwerke gab. [1] Ähnlich der Ergebnisse zu anderen Universitätsstädten zeigt Schopferer u.a., wie sehr die Professoren mit der stadtbürgerlichen Elite verbunden waren und sogar freiwillig das Bürgerrecht erwarben. [2] Das Bild von der autark geschlossenen Universität deckt sich demnach auch hier nicht mit der Lebenspraxis.
Die Studie ist jedoch mehr als eine klassische Sozialgeschichte, denn die Autorin bettet ihre Ergebnisse auch in den Kontext der Bürgertumsforschung ein: Nach Schopferer wurden die Professoren ein "zentraler Bestandteil" eines "neuen 'Bildungsstandes'" (21), der um 1800 eine "eigenständige soziokulturelle Gruppierung" bildete (18), sie meint daher eine "Verbürgerlichung" des Professorenstandes identifizieren zu können. Sicherlich haben einerseits der Staat mit seinem gesteigerten Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften und andererseits die Erosion der alten Ständegesellschaft Auswirkungen auf die Gebildeten gehabt. Abseits von Funeralpraktiken kommt deren eigentliche Lebenspraxis jedoch, wie die Autorin selbst einräumt, nur in Ansätzen vor. Gerade hier wäre jedoch nicht nur ein intensiver, diachroner Blick auf die Geschichte des 18. Jahrhunderts, sondern auch eine umfassendere Klärung der Forschungsgegenstände "Bürgertum", "Stand" und "Funktionselite" in Norm und Praxis vonnöten gewesen.
Dass mit Blick auf die gesellschaftlich offene Professorenschaft "keine Rede mehr von einem eigenen 'Stand' sein kann" (425), schießt deutlich übers Ziel hinaus und vermischt die Beschreibungsebenen zwischen Normen und Praktiken unterschiedlicher Kontexte. Auch die behauptete "Verwissenschaftlichung" des akademischen Arbeitens, in der sich die Veränderungen niedergeschlagen haben sollen, hätte noch deutlicher herausgearbeitet werden können. Denn ob sich etwa in der Einstellung von sogenannten Quereinsteigern zeigt, dass im 18. Jahrhundert neuerdings berufliche Erfahrung und somit ein neuer Grad an Leistung von Bedeutung waren, bleibt ebenso fraglich, wie, ob sich in der Zunahme von Berufungen von außerordentlichen Professoren zu Ordinarien die Forderung ausdrückt, Dozenten müssten mehr wissenschaftliche Qualifizierung qua Vertrautheit mit der Arbeit vorweisen. Zur Erforschung dieser Fragen hätte nicht zuletzt die Berufungspraxis stärker reflektiert werden müssen.
Vielleicht kann die Auseinandersetzung mit der Bürgertumsforschung die Universitätshistoriografie noch weiter dazu ermutigen, die Geschichte der Gelehrten im Aufklärungsjahrhundert als Konflikte sozialer Rollen zu würdigen. In dieser Hinsicht regen auch Schopferers eher eigenwillige Pfade als Denkanstößen an und sollten weiter diskutiert werden.
Anmerkungen:
[1] Peter Moraw: Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: Academia Gissensis. Beiträge zur Gießener Universitätsgeschichte, hgg. v. Peter Moraw / Volker Press, Marburg 1982, 1-43.
[2] Etwa Theresa Schmotz: Die Leipziger Professorenfamilien im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Studie über Herkunft, Vernetzung und Alltagsleben (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte; Bd. 35), Leipzig 2012.
Elizabeth Harding