Jonas Schneider: Amerikanische Allianzen und nukleare Nichtverbreitung. Die Beendigung von Kernwaffenaktivitäten bei Verbündeten der USA (= Comparative Politics - Vergleichende Politikwissenschaft; Bd. 7), Baden-Baden: NOMOS 2016, 579 S., ISBN 978-3-8487-2723-0, EUR 114,00
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Susanna Schrafstetter / Stephen Twigge: Avoiding Armageddon. Europe, the United States, and the Struggle for Nuclear Nonproliferation, 1945-1970, Westport, CT: Praeger Publishers 2004
Ralph L. Dietl: Equal Security. Europe and the SALT Process, 1969-1976, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013
Matthew J. Ambrose: The Control Agenda. A History of the Strategic Arms Limitation Talks, Ithaca / London: Cornell University Press 2018
Kyle Harvey: American Anti-Nuclear Activism, 1975-1990. The Challenge of Peace, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014
Eckart Conze / Martin Klimke / Jeremy Varon (eds.): Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s, Cambridge: Cambridge University Press 2017
Francis J. Gavin: Nuclear Statescraft. History and Strategy in America's Atomic Age, Ithaca / London: Cornell University Press 2012
Ralph L. Dietl: Equal Security. Europe and the SALT Process, 1969-1976, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013
Vince Houghton: Nuclear Spies. America's Atomic Intelligence Operation Against Hitler and Stalin, Ithaca / London: Cornell University Press 2019
Warum sind manche US-amerikanische Verbündete nach 1945 Atommächte geworden, während andere Nichtkernwaffenstaaten blieben? Die Frage ist komplex und bedeutsam für die Geschichte der internationalen Politik im Nuklearzeitalter. Die an der Universität Kiel entstandene, politikwissenschaftliche Dissertation von Jonas Schneider will zum besseren Verständnis der Proliferation von Kernwaffen im Rahmen US-amerikanischer Allianzen beitragen.
Der Verfasser nimmt an, dass in der Frage einer nuklearen Bewaffnung innenpolitischen Konstellationen und individuellen Akteuren herausragende Bedeutung bei politischen Entscheidungsprozessen von US-Verbündeten zukommt. Schneider stellt eingangs eine eigene Theorie vor und untersucht dann vier Fallstudien: die Bundesrepublik Deutschland (bis 1974), Großbritannien (bis 1952), Südkorea und Pakistan. Der Umfang der Fallstudie zur Bundesrepublik beträgt etwa soviel wie das Dreifache des Großbritannien-Kapitels und mehr als die beiden anderen Fallstudien zusammengerechnet. Mit Archivstudien in Deutschland, Großbritannien und in den USA hat der Autor die Quellenüberlieferung zu einem beachtlichen Teil ausgewertet und liefert insofern eine Arbeit im Schnittfeld zwischen Internationalen Beziehungen und Geschichtswissenschaft. Ein systematisches empirisches Studium der vier Fälle ist in einer Arbeit nicht zu leisten. Am dichtesten hat Schneider den Fall der Bundesrepublik recherchiert, auf den sich die Besprechung konzentriert.
Schneider fragt, warum manche außenpolitischen Entscheidungsträger in mit den USA verbündeten Staaten einem "Nuclear Reversal" zustimmten, andere hingegen nicht (20). Die USA hätten wiederum "keinen materiellen, sondern 'bloß' sozialen Druck" ausgeübt, "um ihre Verbündeten zu einem Nuclear Reversal zu bewegen" (501). Sie hätten Verbündeten nicht mit dem Abzug von US-Truppen oder einem Ende der Allianz gedroht, sondern ihnen eine "Anweisung" erteilt, einen "Nuclear Reversal" zu vollziehen (21). Was mit "Nuclear Reversal" gemeint ist, ist nicht eindeutig, obwohl vom Verständnis dieses Konzepts die Bewertung der Rechercheergebnisse durch den Autor und deren Rezeption durch den Leser abhängen. Zu lesen ist, dieser Anglizismus meine die "Beendigung [...] bestehende[r] Aktivitäten im Bereich der Kernwaffenentwicklung" (19). Andererseits ist zu lesen, "Nuclear Reversal bezeichnet den Prozess der Beendigung von staatlich autorisierten Kernwaffenaktivitäten" (28). Der Begriff "Kernwaffenaktivitäten" wird in einem weiten Sinn und als normativ zu verstehen gegeben ("Spektrum von Kernwaffenaktivitäten, von denen alle gefährlich sind"; 39). Andererseits ist nicht immer nachvollziehbar, was der Autor unter "Kernwaffenaktivität" subsumiert oder hiervon exkludiert: "[E]rnsthaftes Erwägen eines Kernwaffenprogramms" soll eine "Kernwaffenaktivität" darstellen (39), nicht aber nukleare Mitwirkung von NATO-Nichtkernwaffenstaaten, die auch im Rahmen der Bindung solcher Staaten an den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zulässig ist, wie nukleare Teilhabe oder die Mitwirkung in der "Nuclear Planning Group" (NPG) der Allianz (124).
Der "Nuclear Reversal" der Bundesrepublik erfolgte "erst 1974, als die Bundesrepublik nach vielen Jahren des Strebens nach Kernwaffen dem NVV beitrat und so verbindlich auf Kernwaffen verzichtete" (46). Verschwommen bleibt angesichts der Uneindeutigkeit des Konzepts "Nuclear Reversal", was sich "1974" ereignet hat. Schneider präzisiert die Datierung dieser Schwelle, die als solche der zeithistorischen Forschung verborgen geblieben ist: Im "Februar 1974" stimmte der Bundestag für die Ratifikation des NVV (127), den die Bundesrepublik am 28. November 1969 unterzeichnet hatte und der für sie am 2. Mai 1975 in Kraft trat. Die Frage, ob die Bundesrepublik Atommacht werde, scheint durch das Überschreiten jener Schwelle im "Februar 1974" gelöst worden zu sein: "Die damals restlos eingestellten Kernwaffenaktivitäten der Bundesrepublik wurden bis zum heutigen Tag nicht wieder aufgenommen." (110)
Gerade aber in den 1970er und 1980er Jahren stand die Beherrschung des gesamten nuklearen Brennstoffkreislaufs im Vordergrund. [1] Zudem ist die Wirkung, die auch Schneider dem NVV im Fall der Bundesrepublik beimisst, überzogen. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Politik der Bundesregierung vor dem Beitritt zum NV-Vertrag nicht darin bestanden hat, die Bundesrepublik zur Atommacht zu machen. Vom Gegenteil geht aber diese Studie aus, ohne den entsprechenden quellenbasierten Nachweis zu führen. Unstreitig ist, dass die Regierung Adenauer die Option offengehalten hat, die Bundesrepublik zur Atommacht zu transformieren. Schneiders Studie geht darüber entscheidend hinaus und offenbart dabei einen nonchalanten Umgang mit den Standards der Quellenkritik. Lediglich drei Punkte seien genannt.
Erstens bewertet er den gescheiterten Versuch der Bundesrepublik 1957/58, mit Italien und Frankreich bezüglich der Urananreicherungsanlage im französischen Pierrelatte zu kooperieren, als "Ausweitung der Bonner Kernwaffenaktivitäten in Richtung eines nuklearen Waffenprogramms" (117). Die historische Forschung hat nach systematischer Aktensichtung festgestellt, dass "ein abschließendes Urteil über die Planung einer Zusammenarbeit im Bereich nuklearer Anreicherung wie auch nuklearer Sprengköpfe" noch ausstehe. [2] Schneider hingegen verweist auf eine trilaterale "Vereinbarung über die gemeinsame Produktion von Atomsprengköpfen auf französischem Boden" (119), ohne dass ihm Bestimmungen der Vereinbarung bekannt sind. Die deutsche Motivation sei evident. Es handele sich - auch wenn dieser Schluss weder zwingend noch überzeugend ist - um den ersten "Versuch, die Bundesrepublik mit eigenen Kernwaffen auszustatten" (119).
Zweitens wird postuliert, Verteidigungsminister Franz Josef Strauß "forderte" gegenüber US-amerikanischer Seite "im Dezember 1958", bestimmte amerikanische "Atomsprengköpfe dauerhaft in den Besitz [...] der Bundeswehr" (119) zu überführen. Auch hier fehlt der Nachweis in den Quellen. Für Schneider ist dies der "zweite explizite Versuch, die Bundesrepublik mit eigenen Kernwaffen auszustatten" (119). Diese These ist nicht plausibel. Sie legt eine deutsche Ambition zur Veränderung des Regimes der nuklearen Teilhabe nahe, die kein Standardwerk über diese Periode deutscher Sicherheitspolitik herausgearbeitet hat. [3]
Drittens "scheint Strauß Anfang der 1960er Jahre" eine nicht weiter spezifizierte "Auftragsforschung des Verteidigungsministeriums" - "anwendungsorientierte militärische Forschungsprojekte" der Fraunhofer-Gesellschaft (124) - "protegiert zu haben". Dies sei "als ein Bestandteil eines nuklearen Waffenprogramms der Bundesrepublik zu werten" (124f.). Einmal mehr fehlen Quellennachweise. Es wird das Bild vermittelt, die Bundesrepublik habe im eigenen Gebiet ein Nuklearwaffenprogramm initiiert - offensichtlich wider ihren im Rahmen der Pariser Verträge von 1954/55 abgegebenen Verzicht auf die Herstellung von ABC-Waffen auf deutschem Boden. Überzeugend ist auch dies nicht - insbesondere nicht im Licht der Ergebnisse der neueren historischen Forschung über die Frage nach dem Verhältnis zwischen der bundesdeutschen Infrastruktur zur zivilen Nutzung der Atomenergie und deren eventueller militärischer Nutzbarkeit. [4]
Was die Antwort auf die Fragestellung der Arbeit angeht, so bezeichnet der Autor die von ihm entwickelte "Intra-Alliance Status Theory" als "bedeutenden Beitrag" (516). Diese Theorie habe im Blick auf die vier untersuchten Fälle "überlegene Erklärungskraft" (499). Sie weise auf einen "innovative[n] Kausalmechanismus" (520) hin: In der Bundesrepublik hätten "Bombenbefürworter" wie Adenauer und Strauß einen "Nuclear Reversal" der Bundesrepublik (und damit auch den NVV) abgelehnt, weil sie die Bundesrepublik in einer "paritätische[n] Statussicht gegenüber den USA" gesehen hätten und nicht in einer "inferiore[n] Statusvorstellung gegenüber den USA" (496f.) - wie etwa die Regierung Brandt, die dem "Nuclear Reversal" der Republik zugestimmt habe. Adenauer hingegen habe sich schon vor Ende des Besatzungsstatuts als "Führer" einer den USA "ebenbürtigen Großmacht" gesehen (242).
War die Bonner Republik - ein sicherheitspolitisches Protektorat der Westmächte - in Adenauers Augen eine "Großmacht auf Augenhöhe mit den USA" (269)? An dieser Stelle dürfte klar sein, dass die Theorie des Autors geringe Erklärungskraft hat. "So unglaublich es auf den ersten Blick auch anmutet", resümiert Schneider: "Christdemokraten wie Strauß", "Churchill" und die "Militärdiktatoren Park Chung-hee und Zia ul-Haq [...] einte [...] ihre paritätische nationale Statussicht gegenüber den USA" (502). Dies mutet nicht nur auf den ersten Blick unglaublich an - Churchill vielleicht ausgenommen.
Historiker und Politikwissenschaftler sollten in einem intensiven Austausch stehen, weil beide Seiten hiervon enorm profitieren können - insbesondere wenn es um das Studium des Nuklearzeitalters geht. Schneiders Arbeit ist ein Beitrag dazu. Was die am dichtesten recherchierte Fallstudie zur Bundesrepublik angeht, so fördert Schneider allerdings keine bislang unbekannten empirischen Erkenntnisse zu Tage und offeriert problematische Bewertungen insbesondere in Bezug auf die Ära Adenauer. Die Studie wirft zudem die Frage auf, inwieweit deduktiv entwickelte "Theorien" - und ihre Erprobung auf der Basis von Fallstudien mit defizitärer quellenkritischer Robustheit - kontingente historische Prozesse erklären können, ohne dass die Geschichte zum Illustrationsmaterial für theoretische Vornahmen herabsinkt. Geschichte ist eben, wie Marc Trachtenberg festgestellt hat, "not just a great storehouse of factual material that can be drawn on for the purposes of theory-testing". [5]
Anmerkungen:
[1] Josef Joffe: A Non-Nuclear Germany: Today, Tomorrow, Forever, in: Strategika 28 (2015), http://www.hoover.org/research/non-nuclear-germany-today-tomorrow-forever.
[2] Ralph Dietl: Dokumente zur Europäischen Sicherheitspolitik, 1948-1963. Stuttgart 2009, 47.
[3] Vgl. etwa Bruno Thoß: NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland; Bd. 1), München 2006.
[4] Vgl. etwa Dieter Krüger: Rezension von: Michael Knoll: Atomare Optionen. Westdeutsche Kernwaffenpolitik in der Ära Adenauer, Bruxelles (u.a.) 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], http://www.sehepunkte.de/2014/04/23989.html.
[5] Marc Trachtenberg: Theory and Diplomatic History, in: Historically Speaking 8,2 (2006), 11-13, hier 13.
Andreas Lutsch