Falko Bell: Britische Feindaufklärung im Zweiten Weltkrieg. Stellenwert und Wirkung der »Human Intelligence« in der britischen Kriegführung 1939-1945 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 95), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 410 S., ISBN 978-3-506-78429-2, EUR 44,90
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"Dass so ein sau-dummes Volk wie die Engländer das alles wissen können!" Ein in Kriegsgefangenschaft abgehörter Feldwebel der Luftwaffe empörte sich in falschem Deutsch gegenüber Mitgefangenen, als er von Kenntnissen seiner Vernehmer über neueste deutsche Flugnavigationsverfahren berichtete (153, Anm. 225). Das Belauschen in speziell präparierten Lagern war eine der ergiebigsten Methoden britischer Feindaufklärung im Zweiten Weltkrieg. Auch "umgedrehte" Soldaten, die als Spitzel ihre gefangenen Kameraden aushorchten, gehörten zum Repertoire. Im konkreten Fall zeigt sich die heute nicht mehr aufzuklärende Ambivalenz des Abhörprotokolls, denn der zitierte Feldwebel zählte zu den ergiebigsten Informanten der Briten. Hatte er nur provoziert, um Kenntnisse über Navigationsmittel aus seinen Mitgefangenen zu locken, oder äußerte er seine persönliche Meinung über den englischen Gegner, dem er nach außen opportunistisch diente?
Die historische Forschung zu geheimen Nachrichtendiensten hat die deutsche Geschichtswissenschaft endgültig erreicht. Die zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) seit den 1990er Jahren besaßen Pioniercharakter. Für die bundesdeutsche Seite folgten Arbeiten zur Frühzeit des nordrhein-westfälischen (2004) und des bayerischen Landesverfassungsschutzes (2013) sowie des entsprechenden Bundesamtes (2015). Die ersten von insgesamt dreizehn geplanten Bänden der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte von Organisation Gehlen und Bundesnachrichtendienst bis 1968 sind im Herbst 2015 erschienen. Ein u.a. von der Gerda Henkel Stiftung gefördertes deutsch-englisches Projekt zu den "cultures of intelligence" (bei Sönke Neitzel, Philipp Gassert, Andreas Gestrich und Simon Ball) blickt in vergleichender Perspektive auf das Wechselspiel kultureller Repräsentationen, gesellschaftlicher Diskurse und nationaler Praktiken von Geheimdiensten in Deutschland, Großbritannien und den USA. [1]
Mit Falko Bells Studie, die ebenfalls von Sönke Neitzel betreut wurde, liegt außerhalb dieses Projektes eine sowohl in Deutschland (Mainz) als auch in Großbritannien (Glasgow) angenommene materialgesättigte Dissertation vor. Ihr Autor schaut durch die Linse der britischen Nachrichtendienste auf Aspekte der deutschen Kriegführung im Zweiten Weltkrieg. Insofern handelt dieses Buch auch von deutscher Militärgeschichte. Eigentliches Thema aber sind Stellenwert und Wirkung der geheimen britischen Dienste bei Sammlung, Analyse, Verteilung und Nutzung durch bewusst eingesetzte oder unbewusst abgeschöpfte menschliche Quellen (im Fachjargon: human intelligence - HUMINT).
Bell bereitet seine Untersuchung zunächst mit zwei systematischen Kapiteln vor. Eingangs rezipiert er ausführlich die maßstabsetzenden anglo-amerikanischen Theorien zu den sogenannten intelligence studies. Daraus entwickelt er ein Modell zum Informationsgehalt und zur Wirkungsweise nachrichtendienstlicher Produkte im militärischen und politischen Prozess. Die umfangreiche Herleitung aus der englischsprachigen Literatur verdeutlicht eindringlich, dass die Geheimdienstforschung hierzulande noch in den Kinderschuhen steckt. Bell erschließt Teile der einschlägigen Theorie- und Methodendebatte - soweit ich sehe: erstmals - für die Diskussion in Deutschland.
Auf das methodische folgt ein organisationsgeschichtliches Kapitel. Zwei übergeordnete Punkte sind in diesem Abschnitt von besonderem Belang: So erfolgreich die britische HUMINT gegen Deutschland insgesamt auch war, gelang es den Briten doch erst sehr spät, im Reich selbst menschliche Quellen in nennenswertem Umfang zu platzieren. Das heißt: Spionage erzielte ihre Kenntnisse vor allem aus Netzwerken in den deutsch besetzten Ländern, besonders aus Frankreich, Belgien, Dänemark und Polen. Allerdings wurde ein guter Teil der geheimen Informationen gar nicht auf dem Kontinent, sondern auf englischem Boden gewonnen. Denn HUMINT umfasste außer Spionen im Ausland viele verschiedene Personengruppen: allen voran deutsche Prisoners of War, die offen verhört und heimlich abgehört wurden; Flüchtlinge und Reisende, die befragt wurden; umgedrehte deutsche Doppelagenten; britische Kriegsgefangene, die mit einigem Erfolg Informationen aus ihren Lagern nach Großbritannien schmuggeln konnten; schließlich die Militärattachés Londons in neutralen Staaten wie der Schweiz, Schweden, Spanien und Portugal. Bells Ergebnisse verweisen nebenbei auf Parallelen zum Kalten Krieg. Nach 1945 war der westliche Personalstock der HUMINT ähnlich ausdifferenziert - ohne Kriegsgefangene natürlich.
Im dritten bis fünften Kapitel präsentiert der Autor drei klug gewählte Fallbeispiele zur Gewinnung und zum Wert von intelligence für Kriegführung und Strategie der Briten: taktisch die militärischen Abwehrmaßnahmen in der Luftschlacht um England 1940/41; auf operativer Ebene gegen den Einsatz und die Zerstörungskraft der deutschen "Vergeltungswaffen" V1 und V2 gerichtete Aufklärung; in strategischer Hinsicht die geheimdienstlichen Erkenntnisse über die deutsche Kriegsmoral in den Jahren 1942 bis 1945. Dabei berücksichtigt der Autor stets die vier prozessualen Bausteine: die Sammlung von Wissen (und damit die Quellen), die Auswertung innerhalb der Dienste, die Verteilung der Berichte in Militär und Regierung sowie die Nutzung des Materials. Im sechsten und letzten Kapitel führt der Autor die Ergebnisse der drei Fallbeispiele unter Rückgriff auf sein Modell zusammen.
Nachrichtendienstlich wirkte HUMINT taktisch durch Hintergrundinformationen zur Konstruktion deutscher Flugzeuge, zur Kampfweise und zum Ausbildungsstand der Luftwaffe - und zwar unterstützend zur technischen Aufklärung (SIGINT), der es zufiel, kurzfristig vor den anfliegenden deutschen Bomberverbänden zu warnen. Auf der operativen Ebene stellten die durch menschliche Quellen erworbenen Informationen das entscheidende Material zur weitgehend korrekten Einschätzung der "Wunderwaffen" und für Abwehrmaßnahmen gegen die eingesetzten Flugbomben und Raketen dar - ergänzt durch fotografische Aufklärung aus der Luft (IMINT). Strategisch, bei der Vorhersage eines vermeintlich frühen Zusammenbruchs der deutschen Moral und damit eines nahen Kriegsendes, gelang zwar die immer umfangreichere Sammlung von Meinungen und Einschätzungen, nicht jedoch die zutreffende Interpretation des oftmals mehrdeutigen Materials. Politisch bildete HUMINT eine von zahlreichen Quellen der Wissensgenerierung für die Regierung und daraus folgende Handlungsempfehlungen; militärisch war sie ein bedeutender "Kampfkraftverstärker". Dabei blieben handwerkliche Misserfolge, wie beispielsweise die Fehldeutung von Erkenntnissen zur bevorstehenden Bombardierung von Coventry am 14./15. November 1940, nicht aus.
Das strategische Fallbeispiel ist das Meisterstück des Buches. Die britische intelligence erwartete eine "Moralkrise" der Deutschen, die jedoch nicht mit den Ergebnissen konkret vorliegender HUMINT begründet wurde, sondern sich aus Vorannahmen speiste: nämlich aus den Erfahrungen des plötzlichen und völligen Zusammenbruchs des Kaiserreichs von 1918. Mit diesem Paradigma, gestützt auf das kulturell geprägte Vorurteil deutscher moralischer Unterlegenheit, setzten die Dienste Londons seit Ende 1942 ohne echte Indizien voreilig auf einen nicht schleichenden, sondern scheinbar aktuell bevorstehenden inneren Zusammenbruch des Gegners. Doch der historische Vergleich gab hier weniger Auskunft über die Stabilität des Deutschen Reiches nach Stalingrad und El Alamein als über die Gedankenwelt der britischen Analytiker und Nutzer des Geheimdienstproduktes. In konkreter Folgerung glaubte man, die Flächenbombardierung deutscher Wohnquartiere könnte zum Aufstand gegen Hitlers Herrschaft führen. Nur langsam wurde der "Irrtum einer direkten Beziehung zwischen Moral und Bombenlast" (334) deutlich, und nach ersten Enttäuschungen über den ausbleibenden Kollaps sowie neuen Hoffnungen nach der Invasion in der Normandie schraubten die Dienste ihre Erwartungen gegen Herbst 1944 zurück. An der Schnittstelle zwischen Sammlung und Auswertung versagte hier zunächst der nachrichtendienstliche Prozess, bevor ein später Realismus Einzug hielt.
Bells theoretisch begründetes, empirisch detailliertes, in seinem Faktenreichtum und in seiner Sprache durch das militärische Thema geprägte Buch beleuchtet die Einordnung und Wirkung von intelligence am Beispiel der (keineswegs "sau-dummen") HUMINT im Rahmen der britischen Kriegführung gegen das Deutsche Reich. Weit mehr als Berlin profitierte London von der Reaktivierung des nachrichtendienstlichen Apparats und Personals aus dem Krieg 1914-1918 und dem zügigen Ausbau beider Komponenten. Die britische Praxis sollte künftig an anderen nationalen Traditionen und Verfahren nachrichtendienstlicher Arbeit gespiegelt werden - am Deutschen Reich, wo neuere Studien mit einigen Ausnahmen fehlen [2]; an der Sowjetunion; und auch die zumindest in Teilbereichen offenkundig hocheffektiven polnischen Dienste bis 1939 und deren Exilableger danach bieten sich dafür an.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Projektbeschreibung auf der Webseite der Stiftung: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/agenten_im_auftrag_der_wissenschaft?nav_id=5102 [Zugriff am 14.01.2017].
[2] Vgl. jetzt Lisa Medrow / Daniel Münzner / Robert Radu (Hgg.): Kampf um Wissen. Spionage, Geheimhaltung und Öffentlichkeit 1870-1940, Paderborn 2015; außerdem Magnus Pahl: Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung, Berlin 2012; dazu meine Besprechung, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 3 [15.03.2013], http://www.sehepunkte.de/2013/03/23175.html.
Armin Wagner