Bärbel Kuhn / Astrid Windus (Hgg.): Geschichte für Augen, Ohren und Nasen. Sinnliche Wahrnehmungen in der Geschichte (= HISTORICA ET DIDACTICA. Fortbildung Geschichte; Bd. 8), St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2016, 173 S., Zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86110-597-8, EUR 24,80
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Geschichte kann man weder sehen noch hören noch riechen. Geschichte ist unsinnlich. Wir sehen, hören und riechen "Überreste", aus denen wir im Rahmen einer komplexen Imaginationsleistung (im Rekurs auf Quellen) Geschichte als elaboriertes Verstandeskonstrukt herstellen. Der suggestive Titel des hier zu besprechenden Sammelwerkes führt mithin alle in die Irre, die annehmen, dass hier Geschichte "für Augen, Ohren und Nasen" aufbereitet würde. Dem ist nicht so. Im Gegenteil: es geht um "sinnliche Wahrnehmungen in der Geschichte" und ihre Rolle im Geschichtsunterricht. Historiker/innen können Vergangenheit nicht riechen, aber sie können über den zeitlichen Wandel der Geruchswahrnehmung nachdenken. Das ist epistemologisch ein erheblicher Unterschied, der nicht deutlich genug betont werden kann.
Die Herausgeberinnen der vorliegenden geschichtsdidaktischen Sammelpublikation lassen in diesem Zusammenhang von vornherein kein Missverständnis entstehen. Das Ziel der Publikation ist klar: Der schulische Geschichtsunterricht soll durch "Sinnesgeschichte" (9) neu perspektiviert werden. Der Band ordnet sich denn auch folgerichtig in eine mehrteilige Fortbildungsreihe ein. Die Publikation ist ansprechend, sorgfältig und fehlerfrei gestaltet. Der erste Teil vereint sechs "fachwissenschaftliche Beiträge" zum Thema (17-99), der zweite Teil (101-172) bietet korrespondierend sechs Unterrichtsvorschläge. In beiden Buchteilen werden akustische, olfaktorische und visuelle Wahrnehmungen unterschieden. Bei der "Architektur" bleibt unklar, welcher Wahrnehmungssorte sie zugeordnet wird.
Die einleitenden wissenschaftlichen Texte sind knapp gehalten. Sie bieten alle nötigen Informationen, um das nachgereichte Quellenmaterial im Unterricht einsetzen zu können. Am Ende jedes Artikels findet sich weitere Literatur verzeichnet. Die beiden Buchteile sind überdies verzahnt. Die Themen des ersten Teiles werden im zweiten Teil noch einmal aufgegriffen. Der Band schließt mit einem Autorenverzeichnis (173). Ein eigenes Literaturverzeichnis sowie ein Register fehlen. Grundlegend sind die Ausführungen der Herausgeberinnen in der Einleitung (9-15). Sie geben das theoretisch-didaktische Konzept vor, in das die nachfolgenden Beiträge eingepasst sind.
Ziel der Publikation ist die "sinnesgeschichtliche Perspektivierung des Geschichtsunterrichts" (13). Die Herausgeberinnen knüpfen damit an historisch-anthropologische beziehungsweise neuere kulturhistorische Ansätze an (9). Hier will die neue "Geschichte für Augen, Ohren und Nasen" bewusst einen Kontrapunkt zum Mainstream setzen. Eine oft von Lehrpersonen geäußerte Kritik wird dabei klug antizipiert, denn zu einem "Mehr" (9) an Themen soll es nicht kommen. Die Vergangenheitsvorstellungen der Lernenden sollen vielmehr erweitert, dem historischen Lernen in der Schule eine "andere Dimension" hinzugefügt werden (9).
Die Beiträge können hier nicht im Einzelnen besprochen werden. Festzuhalten ist aber, dass das Thema fraglos wichtig ist. Spätestens seit Marcel Proust wissen wir, dass Geruch, Geschmack und Sinnesempfindung zeitlichen Konditionen unterliegen. Die 'Nouvelle Histoire' hat auf diese Phänomene früh hingewiesen. Die Sinneswahrnehmung hat eine unabweisbare historische Dimension. Aber so wichtig diese neue Dimension für den Unterricht auch ist, so diffizil ist es, sie methodisch und quellenmäßig korrekt zu erfassen und im Unterricht angemessen zu vermitteln.
Hier liegt meines Erachtens das eigentliche Verdienst der Studie, die das Konzept nicht ohne die methodischen Probleme, die damit einhergehen, präsentiert. So ist es zwar richtig, wenn die Herausgeberinnen betonen, dass uns Sinneseindrücke "im wahrsten Sinne des Wortes" Vergangenheit "nahe" (9) bringen. Es ist jedoch vor der Illusion zu warnen, wir könnten über moderne Vorstellungen die Sinnesgeschichte der Vergangenheit adäquat erfassen. Ahistorische Übertragungen sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Der sinnesgeschichtliche Zugang zur Vergangenheit verspricht viel; es ist aber zu fragen, was er methodisch tatsächlich halten kann.
Das fängt mit den Quellen an. Die Auswahl ist selektiv und medial einseitig. Wir verfügen häufig nur über sprachliche oder bildliche Quellen. Die Quellen bedürfen zudem der differenzierten Interpretation (10). Nicht-schriftliche beziehungsweise nicht-bildliche Bedeutungs- und Zeichenträger liegen uns für die Vormoderne kaum vor. Wenn die entsprechenden Quellen (hier etwa Lieder, Notentexte, Gangsta-Raps, Ouvertüren, Musikrezensionen, Geruchskonserven, Lärmkarten, Zeichnungen, Drucke, Briefe, Flugschriften) für die sinnesgeschichtliche Aufarbeitung der Historie vorhanden sind, stellt die hier favorisierte Perspektive gewiss eine wertvolle Ergänzung der traditionellen schulischen Geschichtsaufbereitung dar.
Aber die Auswahl der Quellen sollte reflektiert und besprochen werden. Die Schüler/innen müssen wissen, dass diese Perspektive nur einen selektiven und reduktiven Blick in die Vergangenheit gestattet. Zum anderen sollte die Einsichtnahme in Alteritäten und Zeitdifferenzen im Rahmen dieser Methode nicht nivelliert werden, indem man die Vorstellung lanciert, Sinneseindrücke brächten uns der Vergangenheit näher, als dies andere Quellen tun (9). Wir sind auch bei einer "Sinnesgeschichte" letztlich auf Quellen und deren Interpretation angewiesen. Die historische Methode bleibt unteilbar.
Abschließend ist deshalb zu betonen, dass wir als Historikerinnen und Historiker im streng erkenntnistheoretischen Sinn vergangene Sinneseindrücke eigentlich gar nicht erforschen können. Was wir lediglich erforschen können, sind die "Spuren", die sie in unserer Gegenwart hinterlassen haben. Dass das wirklich ein Problem ist, sieht man allein daran, dass fast alle für den vorliegenden Sammelband ausgewählten Beispiele aus der neueren und neuesten Geschichte stammen. Konkret werden Lieder beziehungsweise Liederbücher von 2011 und 1793 (17-29), "Emotionen des Krieges" in der Musik des 17. und beginnenden 20. Jahrhunderts (31-44), die Klangkulisse der Industrialisierung um 1900 (45-60), der Wandel der Geruchswahrnehmung vom 16. bis 21. Jahrhundert (61-73), architektonische Quellen zur europäischen Geschichte (75-90) sowie die visuelle "Entdeckung Amerikas" in (nachträglichen) Bilddarstellungen (91-99) untersucht.
Bei den Quellen, die zur Bearbeitung angeboten werden, handelt es sich vorwiegend um Texte, Dokumente, Notenbeispiele, Grundrisse, Zeichnungen, Fotografien, Karten, Bilder, Holzschnitte, Kupferstiche und so weiter. Vereinzelt wird auf Klangbeispiele im Netz (116, 132) verwiesen. Aber auch diese müssen als Quellen "gelesen", also in den Kontext der Zeit gestellt werden. Kurz: Eine "Geschichte für Augen, Ohren und Nasen" wird es, so anziehend der Titel klingt, im eigentlichen Sinne des Wortes nicht geben können, weil Sinneseindrücke immer an eine bestimmte Gegenwart gebunden sind. Wir sollten, auch wenn wir den Geschichtsunterricht spannend und interessant machen wollen, nicht der Versuchung erliegen, den Anschein einer sinnlich-historischen Authentizität, die nicht vergangene Realität, sondern retrospektive Konstruktion ist, erwecken zu wollen.
Das heißt nicht, dass es falsch ist, die Geschichte der Sinneswahrnehmung im Unterricht einzubeziehen. Sie ist wichtig, aber diese Form der Historie ist methodisch und epistemologisch an dieselben Regeln gebunden wie alle andere Historie auch. Der Publikation ist es deshalb - jenseits der Inhalte und Methoden, die sie aufgreift - als hohes Verdienst anzurechnen, dass sie auf eine Dimension der Geschichte aufmerksam macht, die im Geschichtsunterricht der Schule bislang vernachlässigt wurde. Nicht minder ist ihr als Verdienst anzurechnen, dass sie nicht nur auf die Vorzüge, sondern auch auf die Probleme, die mit dem sinnesgeschichtlichen Zugang einhergehen, klar verweist. Geschichte zu unterrichten, wird durch den Einbezug der "Sinnesgeschichte" nicht einfacher, aber auch nicht schwieriger, aber vielleicht doch variantenreicher.
Thomas Martin Buck